Verteidigung des Materialismus: Zur Kritik einer afrozentrischen Ontologie
Christopher J. Williams
aus: Race & Class, July 2005, herausgegeben vom: Institute of Race Relations (IRR), London
Christopher J. Williams arbeitet am soziologischen Institut der York University, Toronto, Kanada, an seiner Promotion. Er forscht insbesondere zu "race" und Rassismus, kritischer Kriminologie und Polizeiarbeit.
Stichworte: Afrozentrismus, Diop, Eurozentrismus, Molefi Kete Asante, Rassismus
"Afrozentrismus geht davon aus, dass die meist unbewusste Übernahme einer westlichen Sicht der Welt und des daraus folgenden Koordinatensystems unser Hauptproblem als afrikanische Menschen ist." (Ama Mazama)1
"Der eurozentrischen Konzeption mit ihrem Primat einer materialistischen Ontologie anzuhängen bedeutet automatisch Zerstörung, denn Materialismus ist immer endlich und begrenzt." (Linda James Myers)2
In den oft zitierten Auseinandersetzungen um Kultur in den 90er Jahren traten bis dato unterdrückte Wissensbestände im amerikanischen Bewusstsein an die Oberfläche. Zu dieser Revolte von den Rändern der Gesellschaft gehört natürlich der Afrozentrismus, zum ersten Mal 1980 systematisch von Molefi Kete Asante von der Temple University auf den Punkt gebracht. Als erkenntnistheoretische Position, Paradigma und sogar Weltsicht gründet Afrozentrismus auf der Voraussetzung, dass Menschen afrikanischer Herkunft denkende, handelnde, sich selbst bewusste Subjekte sind, die legitimen Anspruch darauf erheben, Akteure auf der Bühne der Weltgeschichte zu sein.
Das Jahr 1980 markiert gleichzeitig den Beginn der Präsidentschaft von Ronald Reagan. Afrozentrismus entstand in den USA also zu einer Zeit, als schwarze Positionen und Errungenschaften mit Macht zurück gedrängt wurden. Dennoch ist es dem Afrozentrismus gelungen, die politische Dimension des Werte- und Kulturkanons deutlich zu machen. Damit konnte er Debatten darüber anstoßen, wie Erziehung und Bildung in heterogenen Gesellschaften wie den USA verändert werden müssten.
In einem weiteren Sinn haben afrozentrische DenkerInnen darauf beharrt, die Interessen von Menschen afrikanischer Abstammung in das Zentrum sozialwissenschaftlicher Analyse zu rücken. Daraus sind eine Vielzahl von Studien in den Literatur- und Geschichtswissenschaften, in der Geographie und den Medienwissenschaften sowie der Psychologie entstanden. Diese Untersuchungen greifen die angeblich unverrückbaren (und oft genug rassistischen) Wahrheiten an, die dem wissenschaftlichen Mainstream zu Grunde liegen. In diesem Sinn ist die Entstehung afrozentrischen Denkens eine sehr positive Entwicklung.
Seine HauptprotagonistInnen haben Afrozentrismus stets als eine Form der revolutionären Praxis angesehen, keineswegs allein als eine intellektuelle Bewegung. Asante erklärt zum Beispiel, dass Afrozentrismus "sich als revolutionäres Projekt sieht, weil es das grundlegende Tabu einer patriarchalischen, hierarchischen, rassialisierten Gesellschaft angreift: die allgemein akzeptierte Herrschaft eines Geschlechts über ein anderes Geschlecht, einer Klasse über andere Klassen, einer sexuellen Identität über andere sexuelle Identitäten, einer Hautfarbe über andere Hautfarben. Daher ist die afrozentrische Idee in ihrer authentischsten Ausprägung antisexistisch, antirassistisch und gegen das Klassensystem gerichtet."3
Afrozentrismus als radikales Projekt wird jedoch geschwächt durch einen paradigmatischen Widerspruch zwischen seinem Anspruch auf der einen Seite, alle Formen der Dominanz zu überwinden und andererseits seiner Ablehnung einer materialistischen Ontologie. Die Folgen dieses Widerspruchs versucht dieser Essay zu erhellen.
Die Abkehr vom Materialismus
Manchmal wird behauptet, Afrozentrismus sei lediglich ein groteskes Spiegelbild des Eurozentrismus. Diese Annahme ist falsch. Eine Untersuchung afrozentrischer Forschungsarbeiten zeigt das Bemühen, dominierende Ideologien wie den Eurozentrismus in Frage zu stellen. Das daraus resultierende kritische Denken hat vor dem Marxismus nicht halt gemacht: Marxismus sei fundamental eurozentrisch, reduziere alles auf die Ökonomie und besäße keine Erklärungskraft für das Leben afrikanischer Menschen in Afrika und der Diaspora.
Asante sagt, "weil Marxismus aus dem westlichen Bewusstsein hervor gegangen ist, ist seine Analyse sozialer Zusammenhänge und Entwicklungen mechanistisch."4 Und, in engem Zusammenhang damit, "für den Marxismus ist alles ökonomisch. Es gibt so gut wie keine Analyse von "race" und Kultur."5
Diese Kritik ist natürlich alles andere als neu. Selbst wenn sie ein Körnchen Wahrheit enthält, führt sie in die Irre, weil sie die vulgärsten Formen des Marxismus angreift, Auseinandersetzungen und Ausdifferenzierung innerhalb marxistischen Denkens aber ignoriert: Man sollte an dieser Stelle daher besser von "Marxismen" als von "Marxismus" sprechen.
Gestützt auf ausgewählte Schriften von Marx wie das Vorwort von "Zur Kritik der Politischen Ökonomie" und den ersten Teil von "Die Deutsche Ideologie" sind afrozentrische WissenschaftlerInnen jedoch noch weiter gegangen und haben materialistisches Denken ebenfalls zurück gewiesen. Man kann die Logik dieses Schrittes so beschreiben: Marxismus ist eurozentrisch und Materialismus und Marxismus sind fast gleichbedeutend, daher ist es angemessen, materialistisches Denken auch über Bord zu werfen. Manche AfrozentristInnen verorten die Entstehung materialistischen Denkens vor dem Marxismus. Das gilt z.B. für Marimba Ani in ihrem wegweisenden Buch "Yurugu". Aber dadurch ist die Behauptung nicht entkräftet worden, dass materialistisches Denken unvereinbar mit dem Afrozentrismus sei. Diese Behauptung wird durch eine vereinfachende und karikierende Darstellung von Materialismus unterstützt. So zum Beispiel in einem Zitat von Norman Harris:
"Die eurozentrische Vorstellung von Individualismus beruht auf der Annahme, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Dadurch wird Materialismus mit einem Geist ausgestattet, den er nie besitzen kann. Ein neuer Job oder ein besserer Job, ein höheres Einkommen, ein Auto, Kleidung etc., all das soll angeblich eine Sinngebung mit sich bringen, welche, auf der Bewusstseinsebene, eine neue Person erschafft."6
Nicht genug, dass hier materialistische Dialektik missverstanden wird, also das dynamische Wechselspiel zwischen Menschen und ihren materiellen Lebensumständen. Harris Verschmelzung eines soziologischen Materialismus mit der alltagssprachlichen Bedeutung von "Materialismus" dient mehr der Verwirrung als einer Klärung.
Noch verwirrender wird es, wenn Konzepte, die aus einer materialistischen Analyse der Gesellschaft stammen, in einen afrozentrischen Rahmen übernommen und dort umgedeutet werden. Die Idee der "Lebenschancen" beispielsweise wird von namhaften Soziologen seit langem eindeutig strukturanalytisch gebraucht. In seinem Aufsatz "Die Verteilung von Macht in der politischen Gemeinschaft: Klasse, Status, Partei" beschreibt Max Weber die "Lebenschancen" als Klassenmerkmal: Menschen mit ähnlichen Lebenschancen bildeten, so Weber, eine soziale Klasse.
Ralph Dahrendorf hat, aufbauend auf Weber, die gründlichste soziologische Definition von Lebenschancen geliefert. Nach Dahrendorf bezeichnen "Lebenschancen die Möglichkeit für individuelles Wachstum sowie die Verwirklichung von Talenten, Wünschen und Hoffnungen. Diese Möglichkeit wird von den sozialen Lebensbedingungen bestimmt"7
Ganz ähnlich beschreibt Peter M. Blau, wie Lebenschancen von den Individuen zugeschriebenen Eigenschaften, Arbeitsmarktstrukturen und makroökonomischen Veränderungen geformt werden.8 Dieses Verständnis von Lebenschancen war nicht nur für zeitgenössische Untersuchungen über strukturelle Gewalt im Spätkapitalismus maßgeblich, sondern es ist gerade für Menschen afrikanischer Abstammung interessant. Denn die Macht des Rassismus besteht zu einem großen Teil darin, die Lebenschancen unterdrückter Gruppen zu beschneiden. Die unterschiedliche Lebenserwartung Schwarzer und Weißer in den USA ist einer der offensichtlicheren Belege für dieses Phänomen.
Aus einer afrozentrischen Perspektive sind gesellschaftliche Strukturen und asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Gruppen jedoch weniger wichtig für die Lebenschancen als das individuelle Bewusstsein. Harris erklärt:
"Afrozentrismus ist zwar nicht antimaterialistisch, aber afrozentrisches Denken geht davon aus, dass das Bewusstsein das Sein bestimmt. Mit Bewusstsein ist hier die Weise gemeint, in der ein Individuum (oder ein Volk) über die Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zur Natur und zu einer höheren Idee oder einem höheren Wesen denkt... Die altägyptische Aufforderung 'Mensch, erkenne Dich selbst!' zeigt, dass die Art, in der eine Person die Welt sieht, über sie denkt, sie konzeptualisiert, den Lebenschancen voraus geht und sie in einem stärkeren Maße bestimmt als die materiellen Lebensumstände."9
Wenn also, so lässt sich schlussfolgern, die Lebenschancen der AfroamerikanerInnen in den nächsten zwei Jahrzehnten rapide absinken, dann liegt das an einem wahrscheinlich unerklärlichen Niedergang ihres Bewusstseins statt an, sagen wir, der Verschärfung struktureller Benachteiligung.
Obwohl Harris das abstreitet ist [Hervorhebung im Original, gr] sein Lebenschancen-Begriff antimaterialistisch. Seine Vorstellung, dass die Unterschiede in Bezug auf Lebenschancen sich auf Bewusstseinsunterschiede reduzieren ließen, passt genau zu der Rhetorik populärer Mainstreampsychologie ("mind over matter"). So wird eine Kritik am ökonomischen Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen10 geschwächt.
Wenn das Sein tatsächlich vom Bewusstsein bestimmt wird, wie plausibel ist es dann noch, zu behaupten, dass die skandalös hohe afroamerikanische Säuglingssterblichkeit am institutionellen Rassismus liegt? Sicher ist es ein Fehler, davon auszugehen, dass nicht-strukturelle Faktoren keinerlei Auswirkungen auf die Lebenschancen haben. Wesentlich fahrlässiger ist es jedoch, den Begriff Lebenschancen von der materialistischen Ontologie abzutrennen, durch die er erst seine Bedeutung erhält. Wer dies nicht anerkennt, schwächt den afroamerikanischen Diskurs, anstatt ihn zu radikalisieren.
Darüber hinaus führt die afrozentrische Tendenz, strukturanalytisches Denken abzuwerten, dazu, dass ökonomische Systeme letztlich ununterscheidbar werden. Die Hypothese afrozentrischer TheoretikerInnen ist, dass man dem Marxismus Glaubwürdigkeit verleihe und damit einhergehend den Rassismus vernachlässige, wenn man politische Ökonomie ernst nimmt. Dadurch wird Rassismus zu einem monolithischen und autonomen sozialen Phänomen, welches ökonomische Beziehungen im Wesentlichen einseitig bestimmt. Diese Idee von der Ökonomie als nachgeordnet führt dazu, dass Umwälzungen innerhalb eines wirtschaftlichen Systems, zum Beispiel der Übergang von der industriellen zur postindustriellen Produktionsweise, als relativ belang- und folgenlos erscheinen.
>Ich illustriere das wieder mit einem Asante-Zitat, in dem er "afroamerikanische MarxistInnen" kritisiert:
"Die strukturellen Probleme, die sie (die afroamerikanischen MarxistInnen, gr) im amerikanischen System ausmachen, sind nicht die primären Ursachen der wirtschaftlichen Deklassierung von AfroamerikanerInnen. Auch wenn es stimmt, dass das amerikanische System mit seiner Abkehr von der Industriegesellschaft, durch die Kräfte strukturiert wird, die es versammelt, um afrikanische Menschen zu deklassieren und verunsichern, benötigt es doch zu seinem Funktionieren systematischen Rassismus Mit anderen Worten existiert das System aufgrund des Rassismus, nicht umgekehrt. Es gibt keinen Grund, zu behaupten, dass das Industriezeitalter für AfrikanerInnen in irgendeiner Hinsicht besser gewesen sei als die aktuellen Strukturen."11/12
Am stärksten wirkt Rassismus durch das Zusammenspiel der großen Institutionen, die die Sozialstruktur ausmachen. Vor diesem Hintergrund ist Asantes analytischer Versuch problematisch, erstens Rassismus und Struktur voneinander zu trennen und zweitens Rassismus als den wichtigeren Faktor zu definieren. Die ökonomische Deklassierung wird zwar konstatiert, andererseits spielt Asante aber die Rolle struktureller Veränderungen für die ökonomische Deklassierung herunter. Dadurch wird dem Rassismus eine von anderen Faktoren unabhängige Macht zugesprochen, die er nicht besitzt. Die tiefgreifende Materialität von Rassismus liegt eben genau daran, dass er in eben jenen Institutionen verwurzelt ist, die für die sehr unterschiedlichen Lebenschancen Schwarzer und Weißer in der US-Gesellschaft der Gegenwart verantwortlich sind.
Selbstverständlich haben diese Lebenschancen auch etwas mit der sozialen Klasse zu tun; die Vorstellung, dass die Menschen afrikanischen Ursprungs so etwas wie ein einheitliches Kollektiv bildeten, lässt sich leicht widerlegen: Eine beträchtliche Anzahl von AfroamerikanerInnen wurde vom Niedergang der industriellen Produktionsweise verheerend getroffen; dagegen hat diese Entwicklung für einige, man denke nur an gut bezahlte ProfessorInnen mit Arbeitsplatzgarantie, kaum unmittelbare Konsequenzen. Untersuchungen wie "The new economy, globalisation and the impact on African Americans" von Randolf B. Persuad und Clarence Lusane13 machen deutlich, dass die derzeitige Situation in Wahrheit für viele AfroamerikanerInnen eine Verschlechterung bedeutet.
Auf welche Weise strukturelle Differenzen zwischen verschiedenen ökonomischen Systemen dazu beitragen, rassistische Unterdrückung fortzuschreiben, wird im afrozentrischen Paradigma vernachlässigt. Immerhin bedeutet das eine Abkehr von der leichtfertigen Unterstellung, man müsse lediglich die Gesellschaft in einer bestimmten Weise neu organisieren, um Rassismus auf den Müllhaufen der Geschichte zu verbannen. Problematisch ist diese Position jedoch deshalb, weil sie vernachlässigt, dass bestimmte ökonomische Settings rassistische Unterdrückung eher begünstigen als andere. In einem funktionierenden demokratischen Sozialstaat z.B. stünden soziale Programme, Einkommensbeihilfen, eine Krankenversicherung für alle, Progressivsteuern usw. Rassismus zwar nicht grundsätzlich entgegen, doch die Effekte dieses Rassismus wären wesentlich weniger brutal als in den USA, wo privatwirtschaftliche Eliten direkt und indirekt die Wirtschaftspolitik diktieren, um den Profit auf Kosten der Bevölkerung zu maximieren.
Dennoch zog Haki Madhubutis vorafrozentrisches Diktum, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus seien im Prinzip dasselbe, denn sie seien dazu geschaffen worden, weiße Vorherrschaft zu sichern,14 ähnliche afrozentrische Argumentationen nach sich.15 Daher kann man heute stundenlang zeitgenössische afrozentrische Texte lesen, ohne auf eine einzige kapitalismuskritische Aussage zu treffen. Das obwohl spezifisch kapitalistische Entwicklungen die ökonomische Apartheid in der US-Gesellschaft immer stärker verwurzeln. Das gilt zum Beispiel für die Haltung im wirtschaftspolitischen Mainstream, Inflation stelle ein größeres Übel dar als Arbeitslosigkeit:
"Die US-Bundesregierung baut einerseits Sozial- und Arbeitslosenhilfen ab und singt das hohe Lied der Lohnarbeit, andererseits sorgt sie selbst sporadisch für höhere Arbeitslosigkeit, indem sie den Leitzinssatz anhebt, um die "Wirtschaft abzukühlen" und Inflation zu begrenzen. Das ist natürlich eine alte Geschichte: Immer dann, wenn die Arbeitslosenquote so weit absinkt, dass Jobs für die Menschen in den Ghettos entstehen, die immer diejenigen sind, die zuletzt eingestellt werden, wird das als Zeichen einer heißlaufenden Wirtschaft dargestellt, gegen die die amerikanische Notenbank etwas tun müsse."16
Derartige Beobachtungen legen radikale Schlüsse nahe. Trotzdem hat sich im Afrozentrismus eine unablässige Gleichmacherei durchgesetzt: Alle ökonomischen Systeme und Ordnungen seien gleichermaßen schlecht für die Interessen von AfroamerikanerInnen. Das ist ein Rückschritt hinter den frühen, weitsichtigen, afrozentrischen Aufsatz von Maulana Karenga, der dem spezifischen Rassismus im modernen Kapitalismus die gebührende Aufmerksamkeit schenkte.17 Es bedarf eigentlich keiner Erläuterung, dass Rassismus weder ein völlig nichtexistentes noch ein allumfassendes Phänomen ist. Wer nichtkapitalistische Wirtschaftssysteme ablehnt, weil sie die Existenz von Rassismus nicht völlig ausschließen, stellt die unhaltbare Behauptung auf, dass alle Grade von Rassismus gleich schwer wiegen (...).
Durch ihre Diagnose, dass Kapitalismus auch nicht schlechter sei als alternative Systeme und daher keine spezielle Kritik verdiene, stehen sich afrozentrische KritikerInnen selbst im Weg, wenn es darum geht, die vielfältigen Dimensionen von Rassismus in den USA und anderen Teilen der Welt umfassend zu untersuchen. Ihr Selbstverständnis, in diametraler Opposition zum Status Quo zu stehen, wird dadurch unglaubwürdig.
Bis hierher ging es darum, zu zeigen, in welchem Maße das afrozentrische Paradigma materialistisches Denken zurück weist und stattdessen Ideen einen höheren ontologischen Status zuerkennt. Damit ist nicht gemeint, dass Afrozentrismus notwendigerweise die weltfremde Weigerung beinhaltet, dem Materiellen zumindest eine gewisse Bedeutung zuzuerkennen. AfrozentristInnen haben nicht nur Reparationen gefordert [für die Nachfahren von SklavInnen, gr],18 sondern auch wirtschaftliche Rechte wie Festgehälter19 und Gleichstellungsprogramme.20 AfrozentristInnen haben auch zu der verheerenden Wirkung von Arbeitslosigkeit21 und HIV/Aids22 Stellung genommen. Trotzdem ist die dominierende Tendenz innerhalb des Afrozentrismus, materialistisches Denken zurückzuweisen, da angeblich alle materialistischen Wege unweigerlich zur ideologischen Festung des Eurozentrismus führten. Rationaler wäre es, empirisch und theoretisch zu untersuchen, wie gut sich mit einer materialistischen Perspektive die Lebensbedingungen von Menschen afrikanischen Ursprungs in verschiedenen Teilen der Welt erklären lassen: Scheitert man bei diesem Versuch kläglich, dann ist die Zurückweisung materialistischen Denkens gerechtfertigt. Stattdessen werden die genannten Lebensbedingungen in erster Linie unter Verweis auf Kultur erklärt.
Die Betonung der Kultur
Afrozentrisches Denken und Praxis zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Primat der Kultur für die Lebensumstände der Menschen betonen; dass sie sich damit beschäftigen, ob sich Politik und Wirtschaft auf Kultur zurückführen lassen; dass sie rassistische Unterdrückung als kulturelle Dominanz interpretieren; dass sie Strategien für eine kulturelle Befreiung suchen. Es ist keine Übertreibung, dass Afrozentrismus ein kulturelles Pardigma ist. Kultur wird als determinierende Struktur angesehen, auf der andere Elemente einer Gesellschaftsstruktur aufbauen.
Asante erläutert "die afrozentrische Bedeutung von 'Kultur' meint den schöpferischen Ausdruck der Mythen und Bilder eines Volkes, das Feiern seiner Geschichte. Wirtschaftsbeziehungen erwachsen aus kulturellen Beziehungen, den elementarsten menschlichen Selbstäußerungen, z.B. in Religionen."23 Die Vorstellung, Kultur sei etwas autonomes, existiere aus sich selbst heraus, entfernt sich interessanterweise stark vom kulturellen Materialismus Cheikh Anta Diops. Das Werk des verstorbenen senegalesischen Denkers wird als grundlegend für den Afrozentrismus angesehen. In seinem Klassiker "The African Origin of Civilization: myth or reality?" schildert Diop beispielsweise seine Sicht der Gesellschaftsentwicklung in einer Region des afrikanischen Kontinents:
"Die spezifischen Gegebenheiten im Niltal prägten die politisch-soziale Entwicklung der Völker, die zuwanderten. Die wiederkehrenden Überschwemmungen durch den Nil zwangen alle TalbewohnerInnen, sich dem jährlichen Ereignis gemeinsam zu stellen, ihr Leben bis ins kleinste Detail auf die Überschwemmungen einzustellen....Wegen dieser Arbeitsbedingungen schlossen sich die Familienverbände schnell zusammen. Die Überschwemmungen begünstigten den Aufstieg einer zentralen Autorität, die alle soziale, politische und nationale Aktivität koordinierte."24
Man könnte einwenden, dass Diop weniger Wert auf Geographie gelegt hätte, hätte er kulturelle Phänomene im 21. Jahrhundert analysiert. Aber hätte er eine materialistische Kulturanalyse völlig außer Acht gelassen? Darüber können wir nur spekulieren. Hier soll uns vor allem interessieren, welche Implikationen das derzeitige afrozentrische Verständnis von Kultur hat.
Im Gegensatz zu Stimmen, die den ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren für die Unterdrückung von Menschen afrikanischer Herkunft einen gleich hohen Stellenwert einräumen, gehen AfrozentristInnen davon aus, dass der kulturellen Dimension ein höheres Gewicht zukommt, als den anderen Einflussfaktoren. Sie gehen davon aus, dass afrikanische Kulturen bei aller Unterschiedlichkeit grundsätzliche Gemeinsamkeiten haben, die für das Glück und die Zufriedenheit von Menschen afrikanischer Herkunft unabdingbar seien. AfrozentristInnen fordern daher, dem aufgezwungenen eurozentrischen Wissen etwas entgegen zu setzen.
Für AfrozentristInnen sind neben der Sklaverei die Ideologieproduzenten Kirche, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sowie die Massenmedien verantwortlich für eine katastrophale kulturelle Verarmung von AfroamerikanerInnen. Für Karenga beruht die afroamerikanische Krise auf dem Zerfall von Werten;25 Asante betont die "übergeordnete Bedeutung der kulturellen Krise im Kontext einer heterogenen, rassistischen Gesellschaft."26 Diese Diagnosen legen nahe, dass ein kultureller Kampf, ein umfassendes pädagogisches Programm, vordringlich seien. Also Dinge wie Schreiben, Vorträge, Feiern, Konferenzen, Radio- und Fernsehsendungen usw.. Die schädlichen Auswirkungen der kulturellen Fremdbestimmung sollen mit diesen Mitteln gemindert, wenn nicht sogar völlig überwunden werden. Es geht den AfrozentristInnen also um nichts weniger als eine radikale kulturelle Umorientierung von AfroamerikanerInnen. Hier liege der Schlüssel für eine kollektive Befreiung.
Das kann nur funktionieren, wenn die tieferliegende ontologische Annahme über Kultur wahr ist, nämlich dass sie fast unabhängig von anderen Lebenssphären existiere. Diese Behauptung steht in völligem Widerspruch zum materialistischen Leitgedanken, man könne "Kultur nur unter Bezugnahme auf ihre materiellen Quellen und Funktionen verstehen".27 Dieser materialistische Kulturbegriff meint nicht, dass Kultur ein getreues Abbild der gesellschaftlichen Struktur sei, Kultur und Struktur könne man sich nicht wie professionelle Tanzpaare vorstellen, die sich in perfektem Gleichschritt bewegen.
Gemeint ist vielmehr, dass kulturelle Prozesse innerhalb exakter struktureller Rahmenbedingungen entstehen, sich stabilisieren und verändern. Ganz wie die Regeln beim Schachspiel, die den SpielerInnen nur bestimmte Züge erlauben, aber eben nicht bestimmte Züge vorschreiben. Das erklärt zum einen, warum sich Kulturen verändern, aber eben nicht in einer zufälligen und unbegreiflichen Weise. Es erklärt zum anderen, warum die Möglichkeiten kultureller Entwicklung nicht unbegrenzt sind.
Eine grundlegende und nachhaltige kulturelle Revolution ohne eine gleichzeitige Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen ist also unmöglich, lässt sich aus dem oben Gesagten schlussfolgern. Man muss sich nur die Frage stellen, welche kulturellen Auswirkungen die materielle Armut hat, in der die Hälfte aller afroamerikanischen Kinder leben. Schon allein aufgrund des hohen Energie- und Zeitaufwands, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen, sind diese Kinder und ihre Familien außerstande, darüber nachzudenken, wie sie sich vielleicht von dem Joch des eurozentrischen Denkens und Verhaltens befreien könnten. Dies nur als kleines Beispiel dafür, wie strukturelle Lebensbedingungen die Möglichkeiten und Grenzen kultureller Veränderung bestimmen.
Das afrozentrische Versagen, die materiellen Grundlagen der Kultur zu sehen, hat eine bemerkenswerte politische Folge. Es unterstützt die neokonservative Ansicht, nach der die Probleme der AfroamerikanerInnen von ihnen selbst verschuldet seien. Das ist einer der Hauptgründe dafür, warum es so schwierig ist, AfrozentristInnen im politischen Spektrum von "radical" über "liberal" bis hin zu "conservative" zu verorten. Trotz ihrer Beteuerungen, die etablierte Ordnung radikal in Frage zu stellen, trennen AfrozentristInnen durchgängig Kultur von Struktur. In ihren Augen sind die kulturellen Orientierungen von AfroamerikanerInnen das größte Hindernis für den Fortschritt der ganzen Gruppe. Diese These einer Selbstschwächung passt so gut zur neokonservativen Rhetorik, dass prominente Rechte vielen Aussagen afrozentrischer DenkerInnen sofort zustimmen würden.
Linda James Myers, zum Beispiel, sagt dass "Kultur für die Lebensqualität bestimmend"28 sei. Ama Mazama geht davon aus, dass "angebliche soziale Probleme sich schlussendlich als kulturelle Probleme entpuppen könnten."29 Neokonservative MeinungsführerInnen wie Dinesh D'Souza, Thomas Sowell, David Horowitz und John McWhorter hätten keine Probleme, eine solche Aussage zu unterschreiben. Denn solche Äußerungen erteilen jedem Versuch eine Absage, den zerstörerischen Einfluss vorherrschender Strukturen auf die Lebensqualität von AfroamerikanerInnen zu begreifen.
Von beiden, AfrozentristInnen und Neokonservativen, werden Forderungen an die AfroamerikanerInnen erhoben, die sich in oberflächlichen Dingen unterscheiden, in Grundlegendem aber ähnlich sind: D'Souza sagt, AfroamerikanerInnen müssten anfangen, sich weiß [Hervorhebung gr] zu verhalten, während AfrozentristInnen fordern, AfroamerikanerInnen sollten aufhören, sich weiß [Hervorhebung gr] zu verhalten. Während die beiden Seiten also ihre Argumentation von entgegengesetzten Richtungen beginnen, kommen sie am gleichen Ziel an: Die Misere, in der AfroamerikanerInnen sich befinden, lässt sich in Begriffen kultureller Pathologie beschreiben. Daran kann man sehen, dass eine radikale Analyse des Sozialen unmöglich wird, wenn man die gesellschaftliche Struktur vernachlässigt.
AfrozentristInnen betonen nicht nur den übergeordneten Rang von Kultur in der Analyse interner Dynamiken in der Gruppe der AfroamerikanerInnen. Sie sagen weiter, dass Kultur der zentrale Modus sei, in dem und durch den Dominanzstrukturen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aufrecht erhalten würden. Das gelte insbesondere für Strukturen rassistischer Unterwerfung. Indem AfrozentristInnen ausgehend von dieser Ontologie, die Kultur als Infrastruktur ansieht30, zeitgenössischen Rassismus analysieren, interpretieren sie ihn in erster Linie als ein ideologisches, theoretisches, konzeptionelles und diskursives Phänomen und nur am Rande als materielle und strukturelle Realität. Kultur wird als Fundament rassistischer Unterdrückung angesehen, während politische Ökonomie ein nachgeordnetes Phänomen sei und daher nur eine nebensächliche Rolle in der Reproduktion von Rassismus spiele.
Asante bringt diese Sichtweise auf den Punkt: "In Wirklichkeit wird das gesamte soziale Gefüge, aus dem Unterdrückung besteht, diktiert [Hervorhebung im Original, gr] von hierarchischen Symbolen und intellektuellen Theorien, die in eurozentrischen Ansichten wurzeln."31 Von vorherrschenden Vorstellungen von Christus [als weißem Mann, gr] über die proimperialistischen Äußerungen Rudyard Kiplings bis zu pseudointellektuellen Tiraden wie der "Bell Curve"32 und so weiter: Mit den Augen von AfrozentristInnen gesehen, ist Rassismus vorwiegend ideeller Natur.
Was folgt daraus für die Vorstellung von Antirassismus, die AfrozentristInnen vertreten? Insoweit Problemdiagnosen immer auch Handlungsvorschläge zwingend nach sich ziehen, kann es eigentlich nicht verwundern, dass im Kampf gegen Rassismus vor allem nichtmaterielle Gegenstrategien hochgehalten werden: Theorien werden gegen Theorien ins Feld geführt, Konzepte gegen Konzepte, Diskurse gegen Diskurse und Bilder gegen Bilder. So müsse man beispielsweise (...) "positive Bilder schaffen, mit denen man die Kommunikationskanäle bombardiert", das sei "eine revolutionäre Antwort auf rassistische Unterdrückung".33 (...)
Die Sicht auf Rassismus als ideologische Hegemonie führt zu einer reduktionistischen antirassistischen Position, die sich auf das Feld kultureller Auseinandersetzungen beschränkt: Man müsse nur das Kulturmilieu verändern, dann würden radikale Umbrüche in zentralen Bereichen des sozialen Lebens schon folgen. Die Entsprechung dieses makroskopischen Kulturverständnisses ist der Versuch, die psychologischen Grundlagen von Rassismus dingfest zu machen. Das folgt aus der Voraussetzung, dass das Bewusstsein das Sein bestimme. Ganz in diesem Sinne schlägt Asante vor:
"Nicht institutioneller Rassismus ist es, den wir aggressiv angreifen müssen, sondern persönlichen Rassismus. WissenschaftlerInnen müssen die Psyche von RassistInnen analysieren, ihren Lebensstil, ihr Wertesystem und ihre Überzeugungen. Das Ziel ist, Sprachstrategien zu entwickeln, die reaktionäre Haltungen angreifen."34
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kultur und Bewusstsein aus afrozentrischer Sicht das Terrain sind, auf dem Kämpfe um soziale Gerechtigkeit gewonnen oder verloren werden.
Von einer anderen Perspektive aus gesehen ist rassistische Kultur jedoch eher das Produkt sozialer Dominanz als ihre Quelle. Soziale Unterdrückung wird wohl durch verschiedene Formen kulturellen Ausdrucks verfestigt: Rechtfertigungsdiskurse und nachträgliche Rationalisierungen sind aber eben genau das: Ausdruck, aber nicht mächtige und bestimmende soziale Kräfte. So folgen eurozentrische Christusbilder aus dem Kolonialismus, "Des weißen Mannes Bürde" folgt aus dem Imperialismus und die "Bell Curve" folgt aus der reaktionären und rassistischen Politik, die nach der schwarzen Bürgerrechtsbewegung aufkam. Es ist also zutreffend, dass "die verzerrten und böswilligen Stereotype von Weißen über Schwarze nicht die Essenz rassistischer Unterdrückung sind. Diese Stereotype stellen die Kultur der Unterdrückung dar, aber nicht rassistische Unterdrückung selbst. Man sollte beides nicht miteinander verwechseln."35
Die Beziehung zwischen Struktur und Kultur sollte nicht als rigides Ursache-Wirkung Modell konzeptualisiert werden. Der Kultur einen relativ abhängigen ontologischen Status zuzuweisen, hat jedoch viele Vorteile: So ist zum Beispiel "corporate culture" [das Bild, das große Unternehmen von sich selbst entwerfen, gr] ganz offensichtlich eine Folge von Kapitalismus. Auch wenn "corporate culture" für das heutige Wirtschaftsleben eine wichtige Rolle spielt: andere systemimmanente Faktoren sind am Ende entscheidender. Mit Profitmaximierung lässt sich eher als mit "corporate culture" erklären, warum UnternehmenslenkerInnen die Löhne von abhängig Beschäftigten drücken, Arbeitssicherheitsnormen verletzen oder gegen Umweltgesetze verstoßen. Ein ähnliches Muster lässt sich aufzeigen am Wechselspiel zwischen einer neo-imperialistischen Kultur, der Logik transnationalen Kapitals und der fortdauernden Ausbeutung der Entwicklungsländer.
Neben seiner ontologischen Fragwürdigkeit eignet sich der afrozentrische Rassismusbegriff als in erster Linie kulturelles Phänomen also nicht dazu, antirassistische Strategien zu entwickeln. "Positive Bilder" [von AfroamerikanerInnen, gr] und "Sprachstrategien" können zwar Rassismus abschwächen. Aber die Wirksamkeit solcher Mittel ist stark durch die sich ständig verändernde Gestalt rassistischer Ideologie eingeschränkt.
Gemeinsam ist rassistischen Ideologien einerseits die Abwertung des "Anderen" und andererseits die Überhöhung des Status Quo. Die anderen Bestandteile rassistischer Ideologien dienen zur Unterstützung dieser simultanen Abwertung und Überhöhung. Daher sind sie äußerst flexibel und variieren je nach den Umständen. Wie die Schlange Hydra verfügen sie über das beeindruckende Vermögen, sich aus sich selbst heraus zu regenerieren. So werden AfrikanerInnen von Heiden zu biologisch minderwertigen Wesen zu TrägerInnen kultureller Pathologie. Die jeweilige Zuschreibung hängt teilweise davon ab, ob es eine wirksame antirassistische kulturelle oder intellektuelle Gegenbewegung gibt.
Auch wenn die Details der Zuschreibung (Bezug auf Religion, Biologie, Kultur) wechseln, die Grundannahme afrikanischer Unterlegenheit bleibt bestehen. Daher hat Stephen Steinberg, ein materialistischer Soziologe, Recht mit seiner Aussage, dass "Ideen außerhalb der sozialen Strukturen, in die sie eingebettet sind, nicht viel eigenständiges Leben besitzen. Mythen über Rasse und Ethnizität werden sich nur dann überwinden lassen, wenn die Bedingungen verändert werden, die diese Mythen produzieren und ihnen Nahrung geben."36 Das afrozentrische Unvermögen besteht darin, rassistische Ideen um ihrer selbst willen anzugreifen, statt auf eine grundlegende Veränderung dieser Bedingungen hin zu arbeiten. Dieses Unvermögen hat zu einem verkümmerten Antirassismus geführt. Er lässt zwar noch manche Anklänge an Radikalität erkennen. Das Versprechen einer radikalen antirassistischen Veränderung aber ist verloren gegangen. Ein wirksamer afrozentrischer Antirassismus würde sich dagegen stark auf die Ideen Leith Mullings stützen:
"Ideen können zwar als materielle Kräft wirken. Der Kampf um Macht beinhaltet den Kampf um Interpretationsmacht. Aber wir alle wissen, dass weiße Vorherrschaft nicht lediglich ein kulturelles oder literarisches Projekt ist. Jeden Tag werden wir durch hunderttausende obdach- und arbeitslose AfroamerikanerInnen daran erinnert; durch sechs von zehn afroamerikanischen Kindern, die in Armut aufwachsen; durch jeden Afroamerikaner, der vom Staat eingesperrt und exekutiert wird; durch die jungen Männer, die in der Blüte ihrer Jugend erschossen werden; durch all unsere ermordeten Helden die Grundlage von Rassismus ist ein brutales System ungleicher wirtschaftlicher und politischer Beziehungen."37
Schlussfolgerung
Debatten über Ontologie werden oft als rein akademisch abgetan. Ich habe versucht, zu zeigen, dass die Beziehung zwischen Ontologie, dem Aufstellen von Paradigmata und der Praxis wichtige Konsequenzen für das Leben außerhalb des Elfenbeinturms besitzt: Die afrozentrische Zurückweisung materialistischen Denkens trägt kaum etwas zu einer Aufklärung bei; sie besitzt nichts revolutionäres.
Dennoch hat diese Haltung tiefgreifende Konsequenzen. Zum Beispiel durch ihre Verfälschung des soziologischen Begriffs der Lebenschancen. Dieser Begriff kann, wenn er nicht verfälscht wird, kritische Sozialforschung leiten. Afrozentrismus stimmt durch seine Ablehnung von materialistischer Analyse dem vorherrschenden Denken zu, dass Kritik am Kapitalismus rettungslos in die Irre führe. In ihrem Optimismus unhaltbar ist auch die Annahme, weitreichende Veränderungen in der afroamerikanischen Kultur seien möglich, ohne dass sich der weitere strukturelle Kontext verändere. Der Afrozentrismus ist kompatibel mit neokonservativen Plattitüden über die kulturelle Pathologie von AfroamerikanerInnen. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Besonders bitter ist, dass einige der Personen, die in die Kämpfe der Sechziger Jahre verwickelt waren, jetzt, als WissenschaftlerInnen, alles tun, um sich von der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entfernen. Nur, um ihr Paradigma von materialistischem Denken zu trennen.
Zur bitteren materiellen Realität von AfroamerikanerInnen gehört schlechtes Essen, unzureichende Wohnungen, unterfinanzierte Schulen, Dauerarbeitslosigkeit, Gummiknüppel und Polizeikugeln, unzureichende Gesundheitssysteme, Gefängniszellen etc. So lange die Idee von der Unvereinbarkeit afrozentrischen Denkens mit materialistischer Analyse nicht aufgegeben wird, so lange die tagtägliche Erfahrung von Menschen afrikanischer Abstammung nicht aufgegriffen wird, kann Afrozentrismus diese nicht ansprechen.
Die angeblich reine Lehre hochzuhalten, dass das Bewusstsein das Sein bestimme, dient nur dazu, Grenzen abzustecken: Die Dämonen des Materialismus werden auf Abstand gehalten. Aber Dominanzbeziehungen entlang der Achsen "race", soziale Klasse und Gender lassen sich so nicht angreifen. Kulturkämpfe werden kaum Wirkung zeigen, bis sie gemeinsam mit politischen, ökonomischen, und, wenn notwendig, bewaffneten Kämpfen geführt werden. Ich lehne mich hier an Amilcar Cabrals Position an, dass Menschen, die sich gegen Dominanz von außen wehren, verschiedene Mittel des Widerstands gebrauchen können.38
Auch wenn vielen Aussagen von AfrozentristInnen widersprochen werden muss, stimmen wir Ama Mazamas Statement voll und ganz zu, dass "unsere Praxis die ultimative Probe sein wird".39 Das Vermögen dieser Praxis, eine gerechte Gesellschaft herbeizuführen, lässt sich dadurch entscheidend verbessern, dass die Zurückweisung materialistischen Denkens zurückgewiesen wird.
Roland Peters
Übersetzung: Georg Rohde
1 A. Mazama, >The Afrocentric paradigm: contours and definitions<, Journal of Black Studies (Vol. 31, no. 4, 2001), p. 387.
2 L. J. Myers, >The deep structure of culture: the relavance of traditional African culture in contemporary life<, in A. Mazama (ed.), The Afrocentric Paradigm, p. 126.
3 M. K. Asante, The Afrocentric Idea (Philadelphia, PA, Temple University Press, 1998), p. 42.
4 Ibd., p. 5
5 M. K. Asante, Afrocentricity (revised edition) (Trenton, NJ, Africa World Press, 1988), p. 79.
6 N. Harris, >A philosphical basis for an Afrocentric orientation<, in Mazama (ed.), The Afrocentric Paradigm, op. Cit., p. 114.
7 R. Dahrendorf, Life Chances: approaches to social and political theory (Chicago, IL, University of Chicago Press, 1979), p. 30.
8 P. M. Blau, >Social structure and life chances<, Current Perspectives in Social Theory (Supplement 1, 1994)
9 Harris, op. Cit., p. 113.
10 im Original: critiques of the racial-economic status quo
11 im Original: "..the structural problems they identify in the American system are not primary causes of the economic dislocation of African people. While it is true that the American system, with its new technological thrust away from the old industrial order, is structurally organized by the energy it gathers to dislocate and disorient African people, it is dependent on the cooperation of systemic racism. In other words, the system exists because of the racism, not the other way round. One cannot claim that the industrial age was any better for Africans than the new structural situation."
12 The Afrocentric Idea, op. Cit., p. 5.
13 R. B. Persuad and C. Lusane, >The new economy, globalisation and the impact on African Americans<, Race & Class (Vol. 42, no. 1, 2000).
14 H. R. Madhubuti, Enemies: the clash of races (Chicago, IL, Third World Press, 1978), pp. 7489.
15Afrocentricity, op. cit., p.92.
16 S. Steinberg, Turning Back: the retreat from racial justice in American thought and policy (Boston, MA, Beacon Press, 2001), p. 203.
17 M. Karenga, >Political culture and resurgent racism in the U.S.<, Black Scholar (Vol. 16, no. 3, 1985).
18 Afrocentricity, op. Cit., p. 92.
19 Ibid., p. 98.
20 Karenga, op. Cit., p. 30.
21 N. Akbar, Visions for Black Men (Nashville, TN, Winston-Derek, 1991), p. 23.
22 H. R. Madhubuti, Black Men: obsolete, single, dangerous? (Chicago, IL, Third World Press, 1991), pp. 518.
23 M. K. Asante, Kemet, Afrocentricity and Knowledge, (Trenton, NJ, Africa World Press, 1990), p. 171.
24 C. Anta Diop, The African Origin of Civilization: myth or reality? (edited and translated by Mercer Cook) (Chicago, IL, Lawrence Hill Books, 1974), pp. 251-2. Additionally, Amailcar Cabral, in a 1970 at Syracuse University, made similar observations about the role of African´s physical environments in shaping African cultures. Hen ten went on to provide a thoroughly materialist theorisation of the interplay between culture and economics: >the fundamtental characteristics of a culture is the highly dependent and reciprocal nature of ist linkages with the social and economic reality of the environment, with the level of productive forces and the mode of production of the society which created it<, Return to the Source: selected speeches by Amilcar Cabral (New York, Monthly Review Press, 1974), p. 50.
25 Harris, op. Cit., p. 113.
26 The Afrocentric Idea, op. Cit., p. 9.
27 Steinberg op. Cit., p. 14.
28 Myers, op. Cit., p. 121.
29 Mazama, >The Afrocentric paradigm<, op. Cit., p. 402.
30 im Original "with the culture-as-infrastructure as point of departure...."
31 The Afrocentric Idea, op. Cit., p. 37, emphasis added.
32 Herrnstein & Murray: The Bell Curve. The Free Press, New York, 1994. Ausgesprochen umstrittene statistische Untersuchung, die in den USA eine große Bekanntheit erreicht hat. Eine der resultierenden Aussagen war, dass die Unterschicht in den USA arm sei, weil ihre Intelligenz zu nichts anderem ausreiche.
33 Afrocentricity, op. Cit., p. 37.
34 Ibd., p. 35.
35 Steinberg, op. cit., p. 179, emphasis in original.
36 Ibid., pp. xixxi
37 L. Mullings, >Reclaiming culture: the dialectics of identity<, in M. Marable (eb.), Dispatches from the Ebony Tower (New York, Columbia University Press, 2000), p. 214.
38 Cabral, op. cit., p. 40.
39 Mazama, >The Afrocentric paradigm<, op. cit., p. 392.