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Beschlagnahmte Schiffe retten keine Menschen

Über die Kriminalisierung von Flucht, Migration und Solidaritätsstrukturen

Sophie Tadeus

Die Zentrale Mittelmeerroute ist noch immer die gefährlichste Fluchtroute weltweit. Im Jahr 2018 kamen bis Anfang Mai bereits mindestens 379 Menschen beim Versuch Europa zu erreichen ums Leben. Die Zahl der Überfahrten nimmt ab, die Zahl der Todesfälle bleibt jedoch proportional gleich hoch. Viele Menschen werden zudem vermehrt in libyschen Lagern festgehalten, in denen ihnen nachweislich Gewalt und der Tod drohen, wie u. a. Berichte von Amnesty International dokumentieren. Das Sterben und Leiden an den europäischen Außengrenzen wird immer weiter ausgelagert – raus aus dem eigenen Blickfeld.

Europäische Migrationspolitik »at its best«

Das ist soweit nichts Neues. Erschreckend ist jedoch, mit welcher Selbstverständlichkeit dabei Menschen- und Völkerrechtsbrüche seitens der europäischen Mitgliedsstaaten in Kauf genommen werden. Denn die politischen Maßnahmen der EU zur Eindämmung der Migrationsbewegung reichen weit über die Grenzsicherung durch Frontex hinaus: So begann 2016 die Ausbildung der sogenannten libyschen Küstenwache, einem unübersichtlichen Konglomerat aus libyschen Milizen, zur Eindämmung der Migration an der libyschen Küste. Libyen hat seit 2011 keine stabilen Staatsstrukturen und versinkt in den gewaltvollen Auseinandersetzungen rivalisierender Milizen. Es ist ein vom Bürgerkrieg zerrüttetes Land, wo Migrant*innen systematisch Gewalt, Folter, Vergewaltigung und willkürlichen Exekutionen ausgesetzt sind.

Die sogenannte libysche Küstenwache indessen ist seit einigen Monaten dabei, Flüchtende an der Überfahrt zu hindern und zurück in ebenjene Lager zu stecken. Zum Teil bedrohen diese auch die Crewmitglieder von zivilen Seenotrettungsorganisationen mit Waffen. Sowohl diese Lager als auch die Angriffe der libyschen Einheiten auf NGOs vor Ort und die illegalen Pull-Backs von Migrant*innen werden von der europäischen Gesellschaft wissentlich in Kauf genommen und der Bruch mit internationalem Recht stillschweigend akzeptiert.

Aus verschiedenen Konventionen und Richtlinien ergeben sich für die EU-Staaten Verpflichtungen und Zuständigkeiten beim Schutz von Menschenrechten. Die rechtliche Situation für Flüchtende im Mittelmeer manifestiert sich vordergründig im Refoulement-Verbot, also dem Verbot von Ausweisung, Zurückweisung, Abschiebung oder Auslieferung einer Person in einen Staat, in dem ihr elementare Menschenrechtsverletzungen drohen. Dieses Refoulement-Verbot ist unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert sowie in Art. 33 Absatz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), in Art. 3 Absatz 1 der UN-Anti-Folter-Konvention und in Art. 7 des UN-Zivilpaktes über bürgerliche und politische Rechte.

Die Rettung von Personen in Seenot wird des Weiteren durch das internationale Seerecht abgedeckt: „Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten“ (Art. 98 Abs. 1a SRÜ – Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen).

Das bedeutet, dass Seenotrettung eine Verpflichtung ist, sowie dass eine Aus- oder Zurückweisung in ein Land, in dem Gefahren für Leben oder die Freiheit, Folter oder unmenschliche Behandlung droht, verboten ist. Im konkreten Fall der Zentralen Mittelmeerroute ergibt sich daraus das Verbot eines Zurückweisens der Menschen nach Libyen – einem failed state, in dem sie nachweislich Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.

Seenotrettung ist ein Verbrechen?

Jede gute Geschichte braucht einen Bösewicht: Im populistischen Märchen über die Rettung des Abendlandes können libysche Milizen, die teilweise selber in kriminelle Schlepperstrukturen verstrickt sind, diese Rolle nicht einnehmen. Sie sind immerhin Europas neue Türsteher. Die zivilen Seenotrettungsorganisationen, die als einzige vor Ort als Zeuginnen Rechtsbrüche beobachten und dokumentieren können, bieten sich jedoch bestens für diese Rolle an.

Bereits seit einigen Jahren füllen die NGOs das Vakuum im migrationspolitischen Feld, was sich auf Grund fehlender staatlicher Strukturen auftat. So starteten unter anderem im Jahr 2014 Watch the Med ihre Aktivitäten vor Ort, gefolgt von den Seenotrettungsorganisationen Sea Watch und Jugend RETTET. Zu Beginn toleriert, begann in den Jahren 2016/2017 verstärkt eine öffentliche Hetzkampagne gegen die vor Ort aktiven Organisationen: Seitens verschiedener staatlicher Akteure wurden immer wieder öffentliche Diffamierungen kundgetan. Der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro warf den NGOs offen eine Kooperation mit libyschen Schleppern bei der Rettung von Flüchtenden im Mittelmeer vor. Kurz darauf behauptete der Frontex-Direktor Fabricio Leggeri, die Arbeit der NGOs führe dazu, dass sich noch mehr Migrant*innen in seeuntüchtigen Booten auf den Weg nach Europa machten (der sogenannte „Pull-Faktor“), und der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz sprach vom „NGO-Wahnsinn“, der beendet werden müsse. Obwohl solchen Vorwürfen jegliche Beweisgrundlage fehlt und der „Pull-Faktor“ bereits in einigen wissenschaftlichen Studien widerlegt wurde, werden diese Narrative medial immer wieder aufgegriffen.

Vom gesprochenen Wort zur Tat

Diese Kriminalisierungsmaßnahmen gipfelten im August 2017 in der Beschlagnahme des Schiffs IUVENTA der Organisation Jugend RETTET durch die italienischen Behörden. Die Vorwürfe waren Beihilfe zur illegalen Einreise, Zusammenarbeit mit Menschenschmugglern und der Besitz von Schusswaffen. Letzteres diente als Legitimation, von den italienischen Anti-Mafia-Gesetzen Gebrauch machen zu können und somit eine Konfiszierung des Schiffs als präventive Maßnahme – also ohne tatsächliche Beweise einer Straftat – vor Gericht überhaupt durchzubringen. Bis heute (Stand: Mai 2018) ist das Schiff immer noch in Gewahrsam der italienischen Behörden. Tatsächliche Beweise oder Anklagen gegen die Organisation oder gegen Crewmitglieder gibt es nicht. Das scheint auch nicht weiter notwendig, denn das gewünschte Ziel ist erreicht – die NGO aus dem Verkehr zu ziehen.

Die politische Motivation lässt sich hervorragend entlang der Ermittlungsgeschichte skizzieren: Im September 2016 beobachten zwei Angestellte einer Sicherheitsfirma auf einem anderen NGO-Schiff vermeintlich suspekte Aktivitäten der Crew von Jugend RETTET. Diese beiden Angestellten haben nachweislich Kontakt in die rechte Szene, so auch zur sogenannten Identitären Bewegung. Sie lassen ihre Beobachtungen, die eine angebliche Kooperation zwischen Organisation und Schleppern darlegen soll, nicht nur der italienischen Polizei und dem Geheimdienst zukommen, sondern auch einem Politiker der Lega Nord.

Ihre Aussagen widersprechen sich. Zudem gibt es keinerlei Beweise – keine Fotos, keine Videos oder sonstiges Material. Nichtsdestotrotz reicht das den italienischen Behörden aus, um weitreichende Ermittlungen gegen die Organisation einzuleiten. Diese beinhalten die Verwanzung der Schiffsbrücke der IUVENTA, das Abhören von Telefonaten und das Einschleusen eines verdeckten Ermittlers auf ein anderes NGO-Schiff. Dass es trotz dessen bis heute keine Beweise für vermeintliche Straftaten gibt, spricht für sich. Ebenso, dass man einer kleinen Seenotrettungsorganisation trotzdem das Schiff, und somit die Existenzgrundlage, entzieht. Währenddessen ging das Sterben im Mittelmeer konstant weiter – mit einem Schiff weniger im Einsatzgebiet um gegen diese grauenvollen Missstände anzukämpfen.

Solidarität ist kein Verbrechen

Das Recht auf Leben und Sicherheit findet keine Anwendung, wenn es keine staatlichen Rettungsstrukturen gibt, obgleich das Sterben auf hoher See bekannt ist. Die Zurückweisung der Migrant*innen in menschenunwürdige Internierungslager in Libyen, die Kooperation mit und Aufrüstung von libyschen Milizen und die daraus resultierende Verweigerung einer adäquaten Prüfung von internationalen Schutzanträgen steht im Widerspruch mit vielen internationalen menschenrechtlichen Abkommen. Bei diesem Kampf um geltendes Recht geht es nicht allein um das Thema Seenotrettung. Denn ob Menschen in der Nordsee aus Seenot gerettet werden, wird ja auch nicht verhandelt. Hier geht es vielmehr um die Frage, ob wir in einer Welt leben wollen, in der es nur Rechte für den richtigen Pass oder die richtige Hautfarbe gibt. Und wer am Ende den hohen Preis einer sogenannten „kontrollierten Migration“ eigentlich zahlen muss.

 

Literatur:

Amnesty International (2017): Libya’s dark web of collusion: Abuses against Europe-bound refugees and migrants. In: https://www.amnesty.org/en/documents/mde19/7561/2017/en/

ProAsyl (2015): Internationales Recht: EU muss Bootsflüchtlinge retten und aufnehmen. In: https://www.proasyl.de/news/internationales-recht-eu-muss-bootsfluechtlinge-retten-und-aufnehmen/

ProAsyl (2017): Menschenrechte über Bord! Warum Europas Kooperation mit Libyen so schändlich ist. In: https://www.proasyl.de/hintergrund/menschenrechte-ueber-bord-warum-europas-kooperation-mit-libyen-so-schaendlich-ist/

Frei, Nula & Hruschka, Constantin (2017): Die EU und die Mittelmeerroute: Umgehung des Refoulement-Verbots oder Kampf gegen ‚illegale Migration’? In: https://verfassungsblog.de/die-eu-und-die-mittelmeerroute-umgehung-des-refoulement-verbots-oder-kampf-gegen-illegale-migration/

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