Gerüchte gab es seit langem, die Bestätigung lieferte Ambrogio Cartosio, Staatsanwalt von Trapani auf Sizilien am 10. Mai: Seine Behörde ermittle gegen Mitarbeiter »einiger NGOs«, die auf hoher See im Einsatz sind, wegen Beihilfe zur illegalen Migration ermittelt. Die Ermittlungen richteten sich aber nicht gegen die NGOs per se, sondern gegen einzelne Personen, sagte Cartosio an jenem Tag vor dem Verteidigungsausschuss im italienischen Senat. Die Namen der NGOs, zu denen die Beschuldigten gehören sollen, nannte er nicht. Die Tageszeitung »Corriere della Sera« berichtete, die Justiz ermittle gegen Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF).
Schon in den Wochen zuvor hatte ein Kollege Cartosios, der Staatsanwalt Carmelo Zuccaro aus dem sizilianischen Catania, die privaten Seenotretter mit Schleppern in Verbindung gebracht. Er sei zwar überzeugt, dass »es über NGOs wie Ärzte ohne Grenzen nichts Negatives zu sagen gibt«. Ganz anders aber lägen die Dinge bei »der maltesischen MOAS oder den deutschen NGOs«. Zuccaro hatte auf Grundlage von Daten der EU-Grenzschutzagentur Frontex Untersuchungen zu möglichen Verbindungen zwischen Seenotrettern und Schleppern veranlasst. In seinen Augen agieren die »verdächtigen NGOs« als Komplizen: »Wir haben Belege, dass zwischen einigen NGOs und den Schleusern direkte Kontakte bestanden haben«, sagte er der taz. Außerdem seien die Rettungsschiffe immer wieder auch innerhalb der libyschen Zwölf-Meilen-Zone aktiv gewesen, zudem sei ihre Finanzierung völlig intransparent. Leider seien seine »Belege« jedoch »keine gerichtsverwertbaren Beweise«. Zuccaro wittert politische Machenschaften hinter der Flüchtlingsrettung: »Von Seiten der NGOs wird das Ziel verfolgt, die italienische Ökonomie zu destabilisieren, um daraus Vorteile zu ziehen«. Ein konkretes Ermittlungsverfahren nahm er jedoch nicht auf.
Anders eben Cartosio. Im Mai wurde er vor den Verteidigungsausschuss im italienischen Senat geladen und zu der Angelegenheit befragt. Er wies dort Spekulationen zurück, wonach NGOs von »kriminellen Netzwerken« gegründet worden sein könnten oder kriminelle Absichten verfolgten. Die Ermittlungen hätten aber ergeben, dass einige Hilfsorganisationen Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer retteten, ohne zuvor die koordinierende italienische Küstenwache darüber in Kenntnis zu setzen, sagte Cartosio.
Es gebe zwar keine Hinweise auf direkte Telefonkontakte zwischen NGOs und Schleppern in Libyen. Aber »einige Menschen an Bord der Schiffe« der NGOs seien offenbar darüber im Bilde, wo und wann sie auf Boote mit Migranten träfen, »also werden sie offensichtlich vorher darüber informiert«.
Dies allein wiederum, auch das sagte Cartosio bei der Anhörung, sei nicht justiziabel: Könne nachgewiesen werden, dass die Beschuldigten eine Straftat im Namen eines »höheren Ziels« – etwa um Menschenleben zu retten – begingen, seien keine Strafen zu befürchten. Würden NGOs aktiv, um Menschen zu retten, sei das zu »100 Prozent« gerechtfertigt.
Die italienischen Justiz eierte also herum: Erst ging sie mit offenbar haltlosen Spekulationen an die Öffentlichkeit. Dann nahm sie Ermittlungen auf, musste aber gleichzeitig einräumen, dass wahrscheinlich nichts verbotenes getan worden war. Wieso?
Zu verstehen ist die offensichtlich politisch motivierte Offensive gegen die NGOs nur vor dem Hintergrund der Lage in Italien. Die Zahl der Ankünfte in dem Land ist auf einen neuen Rekordwert angestiegen: 65.450 Menschen zählten die italienischen Behörden zwischen Jahresbeginn und dem 14. Juni, etwa 18 Prozent mehr als im Vorjahr.
Gleichzeitig sind nach Zählung der UN-Migrationsorganisation 1.828 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, davon 1.737 im zentralen Mittelmeer. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Rückgang um 29 Prozent. Es besteht kein Zweifel daran, dass der proportionale Rückgang der Todesfälle das direkte Verdienst der NGOs ist. Gäbe es sie nicht, wäre diese Zahl der Toten erheblich höher, denn anders als die NGOs halten sich die staatlichen Seeretter in der Regel von der libyschen Küste fern.
Insgesamt sind acht private Seenotrettungs-NGOs im Einsatz – mehr als je zuvor: Mit zwei Schiffen vor Ort sind Proactiva Open Arms (Spanien), Sea Eye und Sea Watch (beide Deutschland), Migrant Offshore Aid Station (Malta) vor Ort, je ein Boot im Einsatz haben Ärzte ohne Grenzen sowie Jugend rettet, SOS Mediteranee und LifeBoat Minden (alle aus Deutschland). Im April nahm Sea Watch auch ein Suchflugzeug, Typ Cirrus SR22, in Betrieb, bezahlt vor allem von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stationiert auf Malta und benannt nach dem Zugvogel Moonbird. Was das Flugzeug leisten kann, zeigte sich beim Testlauf am Osterwochenende: Mit seiner Hilfe konnte ein vom Radar verschwundenes Schlauchboot mit 150 Menschen wieder lokalisiert werden.
Die NGOs nehmen die Schiffbrüchigen auf, teils bringen sie sie selbst nach Italien, teils übergeben sie sie etwa der italienischen Küstenwache. Noch immer greift hier die Dublin-Regel: Italien bleibt für die Flüchtlinge im Wesentlichen allein verantwortlich. Ein im 2015 von der EU beschlossener Umverteilungsmechanismus, Relocation genannt, greift nicht: Seit Beginn des Programms im September 2015 bis zum 12. Mai 2017 wurden gerade mal 5.711 Flüchtlinge aus Italien in andere EU-Staaten umverteilt, davon 2.048 nach Deutschland. Die meisten EU-Staaten sind nicht bereit, Italien Flüchtlinge abzunehmen.
Die Wut darüber in Italien richtet sich nicht aber nicht gegen den Rest der EU, sondern eben zunehmend gegen die Seenotretter, die immer häufiger als Ursache des Problems angegriffen werden – so etwa von der Justiz.
Doch auch die EU übt sich in Umkehrung von Ursache und Wirkung. Die Arbeit der NGOs führe dazu, »dass die Schleuser noch mehr Migranten als in den Jahren zuvor auf die seeuntüchtigen Boote zwingen«, sagte Frontex-Direktor Fabricio Leggeri kürzlich. »Wir sollten deshalb das aktuelle Konzept der Rettungsmaßnahmen vor Libyen auf den Prüfstand stellen«, fordert Leggeri dennoch. Wer eine Vorstellung davon bekommen will, was er damit meinen könnte, der sei daran erinnert, dass Frontex vor zwei Jahren Italien ganz unverblümt aufgefordert hatte, nicht mehr nahe der libyschen Küste zu retten.
Österreichs zackiger, junger Außenminister Sebastian Kurz spricht von einem »NGO-Wahnsinn« und behauptet, dass Frontex wiederum behaupte, dass manche der NGOs »mit Schleppern kooperieren« – was Leggeri so nicht gesagt hat. Für ihn sei die private Seenotrettung der »absolut falsche Weg«, sagte Kurz. Sein Kollege aus dem Innenressort, Wolfgang Sobotka, forderte die »sofortige Sperre der Mittelmeerroute« – wie auch immer man sich dies praktisch vorstellen soll.
Mitte Juni legte Stephan Mayer, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nach: Er geht davon aus, dass die Schlepper die Flüchtlinge absichtlich in seeuntauglichen Booten losschicken würden, »da sie mit Sicherheit davon ausgehen können«, dass Boote die Flüchtlinge »bereits nach wenigen hundert Metern oder wenigen Kilometern« aufgreifen würden. »Das beutet de facto, dass ein Shuttle-Service zum italienischen Festland beziehungsweise den italienischen Inseln besteht«, sagte Mayer dem ZDF. »Diese Vorgehensweise ist aus meiner Sicht auf Dauer nicht praktikabel.«
Die Einlassungen von Leggeri, Kurz, Sobotka und Meyer laufen darauf hinaus, die bisherige Strategie der EU zu radikalisieren: Immer weiter sterben lassen und hoffen, dass irgendwann keiner mehr nachkommt.
»Diese Diskreditierung der lebensrettenden Hilfe im Mittelmeer ist inakzeptabel«, sagte Florian Westphal, der Chef der größten Seenotrettungs-NGO, Ärzte ohne Grenzen bei deren Jahrspressekonferenz am 14. Juni. Er beobachte eine »zunehmende Kriminalisierung und Diffamierung« lebensrettender Hilfe.
Kurz zuvor hatte »Ärzte ohne Grenzen« gemeinsam mit SOS Méditeranée und Sea-Watch in einen offenen Brief an Angela Merkel geschrieben.
»In zahlreichen Situationen kamen wir buchstäblich in letzter Sekunde, um Menschen aus überfüllten Booten oder schwimmend aus dem Meer zu retten«, heißt es darin. Gleichzeitig sähen sich die NGOs einer »Reihe unbegründeter Vorwürfe gegenüber«. Die in Italien von der Justiz erhobenen falschen Anschuldigung würden »zunehmend von rechten Gruppierungen ausgenutzt«.
Tatsächlich starteten Aktivisten der rechtsextremen »Identitären Bewegung« in Österreich und in Italien Anfang Juni eine europaweite Spendensammelaktion. Sie wollten eine Schiffsflotte finanzieren. »Wir wollen die Abfahrt von NGO-Schiffen beim Start bremsen, stören und verhindern«, sagte Lorenzo Fiato, der Sprecher der »Identitären« in Italien der österreichischen Zeitung Die Presse. »Wir sammeln Geld für Schiffe, eine professionelle Crew und Rechtsanwälte, die notwendig sind, um den rechtlichen Folgen der Aktionen gegen die NGOs entgegenzuwirken.«
Schon Mitte Mai hatten die »Identitären« das Schiff »Aquarius« der Hilfsorganisation SOS Mediterranee am Auslaufen gehindert. Die Hafenbehörde in Catania griff allerdings ein. Auch die Spendensammlung wurde unterbrochen: Nachdem rund 46.000 Euro zusammen gekommen waren, kündigte der Bezahldienst PayPal den Identitären das Spendenkonto.
Erstveröffentlichung in: Antifaschistisches Infoblatt #115, S. 40f.