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Ein Jahr Seenotrettung

Das Mittelmeer bleibt Symbol unmenschlicher Asylpolitik

Sophie Tadeus

Weniger Tote im Mittelmeer. Mit diesem Leitgedanken wurde im Jahr 2015 der Jugend Rettet e.V. gegründet. Ziel ist es, sich für die Menschen einzusetzen, die auf ihrer Flucht vor Krieg, Gewalt und Repressionen im Mittelmeer in Seenot geraten: Kurzfristig mit einem eigenen Schiff und praktischer Hilfe vor Ort, langfristig über politische Arbeit und Durchsetzung der Forderung nach staatlichen Seenotrettungsprogrammen.

Innerhalb eines halben Jahres haben die Aktiven des Vereins mit Hilfe eines großen Unterstützer_innennetzwerks Geld für den Erwerb und die Ausstattung eines Schiffes sammeln können. Die IUVENTA (lat. »Jugend«) wurde gekauft, umgebaut und für die Seenotrettungseinsätze bereit gemacht. Ab Juli 2016 war sie auf der zentralen Mittelmeerroute nahe den libyschen Hoheitsgewässern unterwegs. Die Crews der IUVENTA konnten im ersten Jahr ihres Einsatzes 6.526 Menschen aus Seenot retten. Gleichzeitig wuchs das europaweite Unterstützer_innennetzwerk: Über 60 junge Erwachsene vertreten als »Botschafter_innen« mittlerweile das Projekt in ihrer jeweiligen Stadt und bilden die Basis für politische Arbeit. Gemeinsam fordern sie die Verwirklichung des geltenden Menschenrechts auf Leben und Sicherheit auf dem Mittelmeer durch die Einführung staatlicher Seenotrettungsprogramme.

Ehrenamt – dauerhafter Lückenfüller?

Auf dem Mittelmeer wird das politische Versagen der EU bezüglich der aktuellen Fluchtbewegung nach Europa nur allzu deutlich. Aber nicht nur hier: Überall in Europa wurden und werden politische Debatten, Fragen nach Fluchtursachen, nach der Herkunft, der Religion oder nach der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsstatus über Menschenleben gestellt. Die staatlichen Lücken, wie die Rettung aus Lebensgefahr, die medizinischen Versorgung von flüchtenden Menschen, das Bereitstellen von Lebensmitteln, Kleidung oder Sprachkursen, werden zunehmend von Privatpersonen gefüllt. Gerade im Jahr 2015 wurden viele Initiativen gegründet, um den politischen Versäumnissen in der Asylpolitik entgegenzuwirken.

Was zu Beginn wie eine vorübergehende Notlösung wirkte, verfestigt sich zunehmend: Die damals gegründeten Initiativen werden professioneller und institutionalisieren sich. Aufgaben wie die elementare Versorgung von Menschen oder die Durchsetzung von Menschenrechten scheinen langfristig an die Zivilgesellschaft abgetreten worden zu sein. Und das dazugehörige Schulterklopfen und Loben des ehrenamtlichen Engagements würde vielleicht nicht ganz so bitter schmecken, wenn nicht gleichzeitig die politischen Maßnahmen seitens der Bundesregierung und der EU diametral den Idealen der vielen Aktivist_innen gegenüberstehen würden.

Mehr Frontex, mehr Libyen, mehr Abschottung

Denn während man sich gerne mit dem steigenden sozialen Engagement im eigenen Land schmückt, wird alles dafür getan, die letzten Fluchtrouten nach Europa zu schließen. So hat die EU bereits Ende 2016 das Mandat ausgeweitet um eine massive Förderungen und Erweiterung der Handlungsbefugnisse der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX sicher zu stellen. Sie wird materiell mit einem Ausrüstungspool und personell mit mindestens 1500 zusätzlichen Grenzschutzbeamt_innen aufgerüstet. Zudem soll die Kooperation mit der Polizei und dem Zoll der betroffenen Mitgliedsländern an der EU-Außengrenze, aber auch mit der europäischen Polizeibehörde Europol, verbessert werden, um sich direkt an den Abschiebungen beteiligen und diese fördern zu können.

Neben den Maßnahmen innerhalb der EU wird auf zuverlässige außereuropäische Kooperationspartner gesetzt. Entsprechend haben 28 EU-Regierungschef_innen beim EU-Gipfel auf Malta im Februar 2017 einen 10-Punkte-Plan verabschiedet, um in enger Kooperation mit dem Bürgerkriegsland Libyen die »irregulären Migrationsströme« von dort nach Italien einzudämmen.

Unter anderem sieht das Programm vor, durch bereits laufende EU-Ausbildungsprogramme, den libyschen Küstenschutz zu verstärken und besser auszurüsten. Wie unübersichtlich die personelle Zusammenstellung der libyschen Küstenwache und damit unberechenbar ihr Handeln ist, zeigten bereits die Angriffe auf mehrere NGOs im Jahr 2016: Im August 2016 wurde das Schiff der Organisation Ärzte ohne Grenzen beschossen, und im Oktober intervenierte eine der libyschen Küstenwache angehörige Einheit gewaltsam während einer Rettungsaktion der Organisation Sea-Watch und verursachte dadurch den Tod von mindestens 30 Flüchtenden1 .

Die Kooperation strebt zudem den Ausbau von Aufnahmezentren in Libyen an, um die aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtenden dorthin zurückzubringen. Erst im Januar hat das Auswärtige Amt die Situation von Geflüchteten in Libyen stark kritisiert. Hier heißt es über sogenannte »Privatgefängnisse«: »Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung« und »Augenzeugen sprachen von exakt fünf Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis – mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen, d.h. den menschlichen ›Durchsatz‹ und damit den Profit der Betreiber zu erhöhen«2 . Die aus Seenot geretteten würden aus der Obhut der EU erneut einer gefährlichen Situation ausgesetzt und die Milizen und Schlepper vor Ort direkte Unterstützung durch die EU erhalten. Aufgrund dieser Ausgangslage und der instabilen politischen und rechtlichen Situation in Libyen ist es blanker Zynismus »angemessene Aufnahmeeinrichtungen« etablieren zu wollen.

Weniger Tote im Mittelmeer

Angesichts dieser Entwicklungen könnte dieser Leitgedanke von Jugend rettet vielleicht bald wahr werden. Wenn weniger Menschen über das Mittelmeer fliehen können, dann minimiert das auch das Sterben im Mittelmeer. Die Menschen würden stattdessen in menschenunwürdige Aufnahmeeinrichtungen gebracht und dort mutmaßlich Gewalt, Folter bis hin zum Tod erleiden. Damit würde sich die europäische Politik von den Bildern der Toten im Mittelmeer befreien und ein Problem mehr in die Peripherie verlagern.

Ob die Flucht über das Mittelmeer tatsächlich ein Ende finden wird, ist bislang nicht abzusehen. Daher bleibt Seenotrettung weiterhin eine wichtige Aufgabe. Die politischen Entwicklungen könnten aber bedeuten das Programm von Jugend rettet auszudehnen: Weniger Tote überall, ob im Mittelmeer oder in der Sahara, der Ägäis oder dem Balkan.

Fußnoten

1 Siehe auch: »EU-Training für libysche Küstenwache: Menschenrechte über Bord« – Pro Asyl News vom 31.10.16

2 »Bericht über Libyen. Auswärtiges Amt sieht »KZ-ähnliche Verhältnisse«« – Spiegel Online vom 29.01.17


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