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Auf der Stelle

Stagnation im NSU-Prozess

Friedrich Burschel

»Es hat nach Schwefel gerochen«, erinnert sich ein Zeuge aus Stralsund. Er war bei einem Banküberfall des NSU am 18. Januar 2007 zufällig als Kunde anwesend. Es war der zweite Überfall auf dieselbe Sparkassenfiliale, der erste geschah Anfang November 2006. Der NSU machte fette Beute, rund eine Viertelmillion Euro. Der Zeuge war nur gekommen, um eine Überweisung am Automaten zu erledigen. Herein kamen zwei Maskierte, einer von ihnen schoss in die Luft – daher der schwefelige Geruch – und schrie: »Banküberfall, kein Spaß, alle hinlegen!« Der Zeuge schilderte die Schockstarre, in die ihn der Schuss und das Gebrüll versetzten, sodass er sich wie in Trance weiter mit seiner Überweisung beschäftigte. Der eine Bankräuber schrie ihn fassungslos an: »Bist du blöde? Leg dich hin...« – »Ja, das mach ich sofort, muss nur schnell meine Überweisung fertig machen«, erwiderte er. Viele hatten gehofft, das Oberlandesgericht München würde die 15 Bank- und Raubüberfälle, die dem »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) zugeschrieben werden, »in den Skat drücken«, zumal sie ja auch angesichts der schweren Verbrechen des NSU – zehn Morde und mindestens drei Sprengstoff- und Nagelbombenanschläge – nicht wirklich ins Gewicht fallen und die zu erwartende Strafe für die Angeklagten kaum verschärfen dürften. Hört man aber die zum Teil erschütternden Berichte der betroffenen Bankangestellten, wird einem klar, dass auch deren zum Teil schwere Traumata zum monströsen NSU-Komplex gehören und gehört werden müssen. Im Übrigen belegen die Raubüberfälle des NSU dessen geradezu schulbuchmäßiges Vorgehen als rechtsterroristische Untergrundzelle, etwa nach dem »Field Manual« von Max Hammer oder dem Vorbild der US-Nazi-Terrorgruppe »The Order«. Dort gehörten Banküberfälle zum Standard des »leaderless resistance«, um das eigene Auskommen im Untergrund zu sichern.

Ohne Reue

Ende April 2015 zelebrierten die Medien den 200. Verhandlungstag des bis Januar 2016 terminierten Prozesses, der seit etlichen Monaten auf der Stelle tritt. Zum Teil ziehen zähe und langwierige Vernehmungen von ZeugInnen – vor allem aus der Nazi-Szene – den Prozess erheblich in die Länge. Anfang März 2015 nun verkündete der Vorsitzende, dass er – vorläufig – die Frequenz der Verhandlungstage pro Woche aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens von drei auf zwei reduzieren werde. Der psychische Druck, der auf der Hauptangeklagten Beate Zschäpe laste, sei enorm, hieß es: Damit hängt über dem Verfahren das Damoklesschwert einer Verhandlungsunfähigkeit Zschäpes.
Die Angeklagten, die beiden Inhaftierten Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben, mit ihren je drei VerteidigerInnen sowie die zwei Mitangeklagten André Eminger und Holger Gerlach zeigen keinerlei Anteilnahme am Prozess. Einzig Carsten Schultze, der sich im Zeugenschutz befindet, hat umfänglich ausgesagt und Reue für seine Tatbeiträge gezeigt. Diejenigen von den Geschädigten aber, die große Hoffnungen auf den Prozess und die Aufklärung der Verbrechen der Nazi-Terroristen gelegt hatten, bleiben dem Verfahren seit Langem fern. Für die Angehörigen der Mordopfer und die Betroffenen der Bombenanschläge des NSU bleibt der Prozess in dieser Form eine Zumutung. Ihre Ansprüche und Forderungen bleiben höchstens Randnotiz, die Aufmerksamkeit für ihre Leiden ist am Schwinden.

Seltsame Todesfälle

Seit einiger Zeit wird die Kluft zwischen dem, was im bunkerartigen, fensterlosen Gerichtsaal vor sich geht, und dem, was außerhalb geschieht, immer größer. Außerhalb des Gerichtssaals spielt der ganze NSU-Komplex eine gesellschaftlich immer noch wichtige Rolle und sorgt mit immer neuen Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA), Enthüllungen und Ermittlungsergebnissen immer wieder für Verwirrung und Aufsehen, das auch in den Gerichtssaal zurückstrahlt. Trotzdem findet keine direkte Bezugnahme der RichterInnen darauf statt, auch wenn das äußere Geschehen unmittelbare Auswirkungen haben könnte. So der Tod von mittlerweile drei prozessrelevanten ZeugInnen unter zumindest seltsamen Umständen: Am 16. September 2013 verbrannte der 19-jährige Florian Heilig in seinem Auto in Stuttgart. Er war auf dem Weg zu einer Vernehmung beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg, wo er zu einer weiteren Terrorzelle und zum Anschlag auf die Polizistin Michéle Kiesewetter am 25. April 2007 in Heilbronn aussagen sollte. Der PUA fand heraus, dass ohne die geringste Ermittlungsarbeit dessen Tod zu einem Selbstmord erklärt wurde. Das ausgebrannte Autowrack und das Zimmer des Toten wurden nicht untersucht, und an den Ermittlungen soll ein leitender Polizeibeamter beteiligt gewesen sein, der dem Ku-Klux-Klan angehört haben soll. Die 21-jährige Freundin des Verbrannten, die im März 2015 vor dem Stuttgarter PUA im Landtag ausgesagt hatte, verstarb wenige Tage später an einer Lungenembolie. Und schließlich der einstige langjährige V-Mann »Corelli« des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Richter, der Anfang April 2014 von zwei Beamten in seiner Zeugenschutzwohnung im Sauerland, wo sie ihn zu einem Asservaten-Fund im NSU-Komplex befragen wollten, tot aufgefunden wurde: Angeblich sei er an einer unerkannten Diabetes verstorben. Die Mitteldeutsche Zeitung kommentierte lakonisch: »Eine seltene Diagnose«. Sollten Fragen zu derartigen Vorgängen doch einmal den Weg in den Verhandlungssaal finden, etwa durch einen dezidiert und gewöhnlich exzellent ausgearbeiteten Beweisantrag oder eine Erklärung seitens eines guten Dutzends engagierter AnwältInnen der Nebenklage, werden sie, wenn nicht von Verteidigung oder Senat, gewiss von der Bundesanwaltschaft beanstandet und als »nicht verfahrensrelevant« zurückgewiesen.

»Bitte nicht vorbeifahren«

Ein weiteres bizarres Beispiel dafür ist der Fall Temme: Der Verfassungsschutzbeamte war am 6. April 2006 in einem Kasseler Internetcafé anwesend, als dessen Betreiber Halit Yozgat hingerichtet wurde – mit der unterdessen berühmten Tatwaffe Ceská83, die bekanntermaßen ihren Weg aus der Schweiz zum NSU gefunden hat. Davon will Temme, der sich danach auch nicht bei Polizei oder Kollegen meldete, nichts mitbekommen haben. Der damalige Innenminister (und heutige Ministerpräsident) Hessens, Volker Bouffier (CDU), hatte dann »zum Schutze des Wohles des Staates Hessen« eine Vernehmung von Nazi-Informanten, sogenannten V-Leuten, untersagt, obwohl Temme mit einem von ihnen vor und nach der Tat länger telefoniert hatte. Die Nebenklagevertretung der Familie Yozgat, die Kanzlei Bliwier, Dierbach, Kienzle aus Hamburg, hat im Februar 2015 das Thema Temme ein weiteres Mal mit einem spektakulären Beweisantrag im NSU-Verfahren in München auf die Agenda gesetzt: Nachdem sie Tonband- Mitschnitte einer Telefonüberwachung aus einem Ermittlungsverfahren gegen Temme von sich aus neu transkribieren ließ, ergaben sich nun Hinweise darauf, dass Temme bereits vor dem Mordanschlag auf Yozgat von der bevorstehenden Tat gewusst haben könnte. Nun wurde dieser monströse Verdacht nicht etwa in München, wo der Antrag gestellt wurde, untersucht, sondern am 11. Mai 2015 im PUA in Wiesbaden. Es wurde ein Kollege Temmes vernommen, der ihm damals am Telefon gesagt hat: »Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren.« Ein Satz, der im ursprünglichen polizeilichen Transkript übrigens schlicht weggelassen worden war. Sollte sich dieser, in dem Satz enthaltene ungeheuerliche Verdacht erhärten, wäre das mehr als nur ein weiterer Skandal, sondern eine veritable, mindestens hessische Staatskrise. Der Prozess jedoch bleibt davon bislang weitgehend unberührt: Temme ist dort nach fünf langen und nervenaufreibenden Vernehmungstagen als Zeuge bereits Anfang 2014 entlassen worden.

Von den rund 600 ZeugInnen sind bisher rund 450 befragt worden. Mehr als 50 von ihnen waren oder sind überzeugte Nazis. Es gibt mehr als stichhaltige Anzeichen dafür, dass es sich beim NSU nicht, wie in der Anklageschrift behauptet, um ein»isoliertes Trio« mit einer Handvoll HelferInnen gehandelt hat, sondern vielmehr um ein eingeschworenes und national wie international weit verzweigtes Neonazi-Netzwerk mit Dutzenden, vielleicht Hunderten mitwissenden Kadern von Organisationen wie »Blood & Honour«, »Hammerskins«, »Anti-Antifa« und »Freien Kameradschaften«.

Fatale Signale

In der Regel lässt der Vorsitzende die überwiegend dreist und unverschämt auftretenden Nazis unbehelligt gewähren. Dabei böten druckvollere Vernehmungen sicher Einblicke in zum Teil wichtige Details, die etwas über die Entstehung mörderischer Netzwerke im Nachwende-Deutschland aussagen und deutlich machen könnten, wie es zum einseitig erklärten, blutigen »Rassenkrieg« »arischer Widerstandskämpfer« kommen konnte, ohne dass dies in seiner monströsen Dimension wahrgenommen wurde. Stattdessen können sich diese Kader des Langen und des Breiten im Gerichtssaal als »politisch Interessierte« darstellen, die nichts Harmloseres im Sinn hatten als – so am 23. Juli 2014 der Nazi und VS-Gewährsmann Andreas Rachhausen – den »Kampf um das biologische Überleben unseres Volkes«. Die Botschaft, die so vom Münchener Gericht in die bundesweite Nazi-Szene ausgeht, ist fatal.
Gewiss nicht zu früh brach es am 199. Prozesstag aus Nebenklageanwalt Yavuz Narin – er vertritt die Familie des am 15. Juni 2005 im Münchener Westend ermordeten Theodoros Boulgarides – heraus. Er schäme sich, so bekannte Narin, wenn er ausserhalb des Gerichtssaals gefragt werde, wie es sein könne, dass offensichtlich lügende Nazis stets ungeschoren den Gerichtssaal verlassen und sich im Anschluss in sozialen Medien verächtlich über den Prozess äußern könnten. Narin sagte, er würde sich wünschen, dass Richter Götzl in der Weise, wie er mit ihm und anderen Nebenklage-AnwältInnen umspringe, auch mal Nazi-ZeugInnen auf die Hörner nehmen würde. Tatsächlich legt der Vorsitzende eine erstaunliche und inzwischen kaum noch nachvollziehbare Langmut an den Tag, die den offenen Lügen, vorgeschobenen Erinnerungslücken und frechen Provokationen in keiner Weise mehr angemessen scheint. So sorgt er weiter eher für Ent-, denn für die viel beschworene Beschleunigung des Verfahrens.      


Info zum Text

Der Artikel wurde auch im schweizerischen »Vorwärts« vom 22. Mai 2015 veröffentlicht. www.vorwaerts.ch


Über den Autor

Friedrich Burschel ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mitarbeiter von NSU-Watch und Korrespondent von Radio Lotte Weimar im Münchener NSU-Prozess

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