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Dies ist die thematisch erweiterte Fassung des Artikels „Feindbild Bettler*in“ der ZAG_68

Feindbild Bettler*in 

„Daß ihr darum nicht die schlechtesten Menschen seid, weil ihr so herabgekommen seid, dieser Glaube muss zerstört werden.“

Max Winter1 , Journalist 1905

„Das Gesetz macht alle auf erhabene Weise gleich. Es verbietet allen Menschen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen - den Armen ebenso wie den Reichen.“

Anatole France, französischer Schriftsteller, 1894

Sozialdarwinismus als 'Extremismus der Mitte' im Kapitalismus

Von großen Teilen der Bevölkerung werden soziale Randgruppen abgewertet und angefeindet. Diese Geringschätzung und Anfeindung soll im Folgenden als 'Sozialdarwinismus' bezeichnet werden. Alternative Begriffe und Analysekategorien für die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und/oder der Nichtbeteiligung an Lohnarbeit – wären Sozialchauvinismus, Sozialrassismus, Nützlichkeitsrassismus oder Klassismus. Im deutschsprachigen Raum hat sich in diesem Zusammenhang bisher noch keine feste Begrifflichkeit etabliert. Im Gegensatz dazu ist die Bezeichnung 'classism' im englischen Sprachraum stärker verbreitet. Andreas Kemper und Heike Weinbach definieren den Begriff wie folgt: „Klassismus, verstanden als eigenständige Form der Unterdrückung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen, selbst oder fremd zugeschriebenen oder vermuteten Klassenzugehörigkeit […].“2  

Mit 'Sozialdarwinismus' soll an dieser Stelle nicht nur die alleinige Abwertung auf der Basis von Klasse gemeint sein. Sozialdarwinismus basiert auf dem Arbeitsethos und Leistungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses wurde auch von der Schicht der Arbeiter*innen und ihren politischen Bewegungen größtenteils verinnerlicht. Beim Sozialdarwinismus geht es auch um die Abwertung und Diskriminierung vor allem von Transferleistungs-Empfänger*innen und sozialen Randgruppen seitens breiter gesellschaftlicher Schichten. Arbeiter*innen können ebenfalls z.B. Arbeitslose abwerten und selbst Obdachlose können sich untereinander aus sozialdarwinistischen Motiven abwerten.

Der Begriff 'Darwinismus' im Wort Sozialdarwinismus weist auf die Konkurrenz-Setzung von Bevölkerungsschichten und auf den Glauben an ein „Recht des Stärkeren“ hin. Die Darwin zugeschriebene Theorie der Auslese in der Tierwelt wird dabei auf die Menschenwelt übertragen.

Vor allem Bettler*innen, Wohnungs- und Obdachlose, (Langzeit-)Erwerbslose und/oder Suchtkranke als (vermeintliche) Transferleistungs-Empfänger*innen werden durch den Sozialdarwinismus im Endeffekt zu Außenseiter*innen der Gesellschaft, zu Deklassierten, zu (vermeintlich) Unangepassten, zu Abgehängten, zu 'Überflüssigen' und sozial Marginalisierten gemacht. Dies geschieht dadurch, dass in der herrschenden Leistungsgesellschaft Transferleistungs-Empfänger*innen von den Leistungsträger*innen als Konkurrenz bei der Verteilung von staatlichen Mitteln bzw. der Um- und Wiederverteilung von Steuereinnahmen und der Verteidigung von Privilegien betrachtet werden.

Damit geht eine Individualisierung gesellschaftlicher Zustände nach dem Motto „selbst verschuldet“ einher. Diese Haltung ist mit dem Glücksversprechen der neoliberalen Risikogesellschaft im Kapitalismus verbunden. Eigentlich, so die Behauptung, könne es in dieser Gesellschaft jede*r zu einem guten Auskommen bringen, vorausgesetzt sie oder er habe den festen Willen dazu. Eine systemische Analyse wird sich solcherart verweigert. Dabei ist Erfolg herkunftsbedingt (Geburts- bzw. Wohnort, Klasse bzw. Schicht, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Kaste usw.) und außerdem stark abhängig von Zufällen.

In jüngerer Zeit lässt sich beobachten, dass bei der Abwertung von sozialen Randgruppen wieder verstärkt biologistische Theorien zum Tragen kommen. Unzweifelhaft ist das auch ein 'Verdienst' des deutschen Sozialdemokraten Thilo Sarrazin und seines 2010 erschienenen Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“. Bei Sarrazin findet erkennbar eine Biologisierung bzw. Naturalisierung des Sozialen statt. Sarrazin geht in seinem Buch von einer Vererbbarkeit von Intelligenz aus, der er im Gegensatz zu anderen Faktoren eine dominante Rolle zuspricht. Nach Sarrazins Auffassung ist die Unterschicht somit eine 'natürliche' Ansammlung von Menschen mit minderen Fähigkeiten: „Während die Tüchtigen aufsteigen und die Unterschicht oder untere Mittelschicht verlassen, wurden und werden in einer arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft nach »unten« vor allem jene abgegeben, die weniger tüchtig, weniger robust oder ganz schlicht ein bisschen dümmer und fauler sind.“ 3

Gegen Bettler*innen gerichteter Sozialdarwinismus

Das mehrheitsgesellschaftliche Bild von Bettler*innen ist stark sozialdarwinistisch geprägt. Als Angehörige einer sozialen Randgruppe werden sie gemeinhin höchstens toleriert, aber so gut wie nie akzeptiert. Meist gelten sie als 'unnütz' und werden als „Schmarotzer“ und „Parasiten“ diffamiert, da ihre Tätigkeit in einer ökonomistisch geprägten Logik nicht als produktiv angesehen wird. Für Bettler*innen selbst ist das Betteln allerdings eine Überlebensstrategie. Michael Ofner betont in seiner Diplomarbeit über die Geschichte der Obdachlosigkeit in Österreich die Funktion des Bettelns als Mittel zum Überleben: „Der Bettel, bzw. die komplexe Lebenssituation des Bettlers, muss als Möglichkeit der Beschaffung von Subsistenzmittel außerhalb der Arbeit angesehen werden.“4

In der modernen Gesellschaft wird der Wert eines Menschen häufig nach dessen Marktwert bemessen, d.h. entscheidend ist wieviel dieser zur Leistungsgesellschaft beiträgt. Bettler*innen tragen nichts zum allgemeinen Wohlstand bei und gelten daher als dessen Nutznießer*innen. Häufig wird dieser Umstand zum Anlass genommen sie als „Schmarotzer“ oder „Parasiten“ zu diffamieren.

Nicht nur ihre Armut, die sie meist zum Betteln zwingt, lässt diese Gruppe in der sozialen Hierarchie ganz nach unten rutschen. Es ist auch das allgemeine Ansehen von Betteln in der Gesellschaft, was u.a. mit zu dem niedrigen sozialen Status führt.

Bettler*innen und Angehörige anderer sozialer Randgruppen gelten somit in der modernen Leistungsgesellschaft weder in ausreichenden Maß als Konsument*innen noch sind sie Netto-Steuerzahler*innen. Da das Konstrukt einer nationalen Gemeinschaft sich heutzutage stärker als Leistungsgesellschaft definiert, werden Einkommensarme schnell von der Solidarität und dem Gleichheitsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Statt allen Menschen oder wenigstens allen Staatsbürger*innen Zugang zu den Innenstädten, Geschäftspassagen oder Bahnhöfen zu gewähren, bleiben de facto bestimmte Gruppen von diesen allgemeinen Rechten ausgeschlossen, obwohl es sich oft um so genannte 'öffentliche Güter' handelt. Dazu gehören häufig Obdachlose und Bettler*innen.

Die Anerkennung und die Zutrittsrechte für Angehörige von sozialen Randgruppen zur bürgerlichen Gesellschaft unterliegen dabei politischen Konjunkturen, je nachdem wie zugespitzt der öffentliche Diskurs gegen soziale Randgruppen ist – nicht selten abhängig von der wirtschaftlichen Lage und daraus resultierenden gesteigerten Abstiegs- und Verlustängsten des Bürgertums.

In Wirtschaftskrisen verkleinert sich offensichtlich im Bürgertum die Solidarität bzw. die Bereitschaft andere Gruppen zu unterstützen, seien es die Bewohner*innen der EU-Südländer, Migrant*innen, Obdachlose und Bettler*innen oder andere Minderheiten. Im öffentlichen Diskurs ist dann abwertend von „Pleite-Griechen“ und „Armutseinwanderern“, „Asylbewerbern“ oder „der Homo-Lobby“ die Rede. Diese nicht dem eigenen – und konstruierten – Wir-Kollektiv zugeordneten Personen werden in der Folge von der Solidarität ausgeschlossen. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von einer „rohen Bürgerlichkeit“. Heitmeyer führte 2011 in einem Artikel aus: „Die objektive finanzielle Spaltung zwischen Reich und Arm wird ideologisch durch die Abwertung und Diskriminierung von statusniedrigen Gruppen durch die rohe Bürgerlichkeit getragen. […] Die rohe Bürgerlichkeit zeichnet sich durch den Rückzug aus der Solidargemeinschaft aus – befeuert durch wirtschaftswissenschaftliche Eliten und die herrschende Politik.“5  

Bettler*innen werden zusätzlich offenbar besonders in der Mittelschicht – zumindest unbewusst – als Armutssymbole und -Manifestationen wahrgenommen. Sie sind Indikatoren für die Existenz von Armut und der potenziellen Bedrohung aller durch Armut. Statt aber Armut zu bekämpfen, werden im Sozialdarwinismus Arme bekämpft. 

Rechtliche Lage in der Bundesrepublik: zunehmende Re-Kriminalisierung von Betteln

Betteln unterliegt in Deutschland gesetzlichen Bestimmungen. Diese verändern sich im Laufe der Zeit und können daher von Stadt zu Stadt, von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich ausfallen.

Generell verboten ist das so genannte „aggressive Betteln“, was bundesweit als Ordnungswidrigkeit verfolgt wird („Belästigung der Allgemeinheit“, § 118 Ordnungswidrigkeitengesetz). Dabei bleibt unklar  und im Einzelnen Interpretationssache, was genau „aggressives Betteln“ sein soll.. Die z.T. aufdringlichen Unterschriftensammler*innen diverser NGOs oder die um ihre Form von Seelenheil werbenden Religionsgemeinschaften wie Scientology gehören offenbar nicht dazu. Generell verboten ist auch das Betteln von Minderjährigen und mit nicht artgerecht gehaltenen Tieren. Bei ersteren ist es auch Auslegungssache, da es unbekannt ist, dass bisher die Praxis zu Fasching mit Kostüm zu Betteln je kriminalisiert wurde. Ebenfalls verboten ist der Bettelbetrug, d.h. die Vortäuschung falscher Verhältnisse (z.B. „Bin obdachlos“). Das so genannte „stille Betteln“ ist dagegen seit 1974 generell erlaubt. Bis dahin war Betteln als „gemeinschädliche Straftat“ strafbar, wobei die enorme Strafhöhe von bis zu sechs Monaten Haft ein Erbe des Nationalsozialismus war. Damals wurden nicht nur das Betteln, sondern auch andere Erscheinungsformen von Armut kriminalisiert. Hintergrund bildete laut dem Jurist Ron Steinke eine „repressive Fürsorge“.

Derzeit lässt sich die Tendenz zu einer zunehmend repressiven Behandlung dieser Thematik beobachten. Sprich: Die Bettel-Verbote nehmen zu. Statt auf Bundesebene werden die Verbote und Teil-Verbote seit den 1990er-Jahren auf Kommunalebene erlassen. Dieser Trend existiert wahrnehmbar seit den 1990er-Jahren. Diese Entwicklung konstatiert auch Steinke in einem Aufsatz von 2006: „Viele kleinere Gemeinden, die vom Tourismus leben, aber auch Großstädte wie Frankfurt, Bremen, Nürnberg oder Erfurt, haben seit Beginn der 1990er Jahre unter dem Schlagwort "Saubere Stadt" bettelnde Menschen mit Verbotssatzungen aus dem öffentlichen Blickfeld vertrieben.“6 Steinke bezeichnet das passend als „Soziale Frage und repressive Antwort“. Wobei Diese 'repressive Antwort' der Legislative kommt häufig erst durch Forderungen von Anwohner*innen, lokalen Geschäftsleuten, der Handelskammer und kommunalen politischen Vertreter*innen zustande. In den offiziellen Begründungen ist dann z.B. die Rede vom „subjektiven Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“. Den Vorreiter macht hierbei München, was Bettelei 1980 kurzerhand zum Gewerbe erklärte, was eine Genehmigung benötigt. Betteln wurde damit zur genehmigungspflichtigen „Sondernutzung“ öffentlicher Flächen.

Da bis 1974 alle Formen von Betteln unter Strafe standen und sich eine zunehmende Verbotspraxis  beobachten lässt, kann durchaus von einer Re-Kriminalisierung gesprochen werden.  

Sollte sich zukünftig ein bundesweiter negativer Diskurs über Betteln etablieren, besteht die Gefahr dass eine Rückkehr zu einem bundesweiten Bettelverbot gefordert wird. Besonders politische Rechtsausleger könnten versuchen sich über so eine rechtspopulistische Forderung zu etablieren.

Doch nicht nur ein Bettelverbot trifft Bettler*innen. Bettelnde und wohnungslose Menschen sind wie andere soziale Randgruppen (etwa Punks, Sexarbeiter*innen, Drogenabhängige) auch betroffen vom Verbot für öffentliches Urinieren und Alkoholkonsum. Bei Zuwiderhandlungen drohen Platzverweise oder Aufenthaltsverbote und schließlich Bußgelder bzw. bei dessen Nicht-Bezahlung unter Umständen „Erzwingungshaft“. Steinke resümiert: „Der Staat begegnet der wachsenden Armut mit repressiven Mitteln. Damit sollen die zugrunde liegenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme in den "sauberen Städten" aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwinden“7 .

Von den Kommunen zunehmend verboten werden außerdem „Demutsbetteln“ (z.B. auf Knien betend um Geld bitten), „Schock-Betteln“ (körperliche Gebrechen zur Schau stellen) und „organisiertes Betteln“. Auch hier ist unklar, was genau darunter zu verstehen ist. Offenbar wird es der Polizei und den Beamt*innen vom städtischen Vollzugsdienst überlassen zu entscheiden, ob etwas als „organisiertes Betteln“ eingeschätzt wird. Damit kann unter dem Verweis auf diese kriminalisierten Formen des Bettelns auch die ganze Innenstadt von Bettler*innen 'gesäubert' werden. Verbotenes Betteln stellt eine Ordnungswidrigkeit dar. Dafür gibt es einen Platzverweis und die  alle Einkünfte bis auf 15 Euro werden beschlagnahmt. Die Diskussionen um „osteuropäischen Bettelbanden“ dienten häufig als Anlass zur Verschärfung einer Verbotspraxis in den Kommunen. Dabei wird auf populäre Mythen über Bettler*innen als Begründung zurückgegriffen. 

Mythen, Klischees, rassistische und antiziganistische Vorurteile  

Um Bettler*innen ranken sich einige Mythen, die aber in breiten Teilen der Öffentlichkeit von Medien, Politik und Beamt*innen als Gewissheiten verkauft werden, ohne bewiesen worden zu sein.

So wird vielen Bettler*innen unterstellt, sie würden ein enormes Einkommen erbetteln, „ohne etwas zu tun“. In einer Leistungsgesellschaft gilt der Erhalt von Geld oder Leistungen ohne „echte“ Lohnarbeit als skandalös und wird von Neid und Hass begleitet.

Besonders die Mittelschicht inszeniert sich gerne als „ehrlich“ und „hart arbeitend“. Der Unterschicht aus Einkommensarmen und (Langzeit-)Arbeitslosen wird vorgeworfen, auf „unsere Kosten“ zu leben. Dieser Diskurs ist äußerst populär. Die Einkünfte durch Betteln dürften in der Realität sehr unterschiedlich ausfallen und kaum so groß sein, wie sie sich Normal-Bürger*innen in ihrer Fantasie ausmalen. Der Mythos der „Bettler-Mafia“ mit ominösen „Hintermännern“ scheint sich speziell gegen (vermeintliche) osteuropäische Bettler*innen zu richten. Zumeist ohne Unterschiede zu machen, wird Bettler*innen aus Osteuropa unterstellt, sie gehörten einer mafiösen Struktur an. Die Beweise dafür sind rar. Manchmal werden Beobachtungen über eine gemeinsame Anfahrt oder eine Absprache bei der Platzvergabe als 'Beweise' angeführt. Das beweist aber keinerlei Hierarchie, sondern nur eine Kooperation. Mit Verweis auf die bisher kaum bewiesene Annahme von der Existenz einer „Bettler-Mafia“ wird häufig gefordert osteuropäischen Bettler*innen als angeblich Ausgebeuteten kein Geld zu geben. Selbst wenn es dieses Ausbeutungs-Verhältnis tatsächlich im größeren Maßstab geben sollte, wäre es für Normal-Bürger*innen von außen kaum erkennbar.  Die Forderung, nichts zu geben, fördert eine rassistische Einteilung von Bettler*innen in „gute, einheimische“ und „schlechte, fremde“ Bettler*innen. Jede*r als „osteuropäisch“ wahr genommene*r Bettler*in erhält damit nicht, da er/sie ja zur „osteuropäischen Bettlermafia“ gehören könnte.  Im Grunde ist das eine Form von racial profiling.

Ein Beispiel für Reproduktion dieser Mythen lieferte der Neuköllner SPD-Bezirksbürgermeister Buschkowsky im Juni 2014 im Interview mit der BILD, der sich von Bettler*innen geradezu verfolgt fühlt: „Alle Viertelstunde werde ich in einer mir nicht geläufigen Sprache angesprochen oder bebettelt. [...] Aus einer Mischung von Angst erzeugender Drohgebärde und Aggressivität will man Mitleid heischend an mein Portemonnaie. Es geht aber nicht um die Linderung von Not und Elend, sondern wohl eher um organisierte Kriminalität. [...] Ich habe (auch) kein Patentrezept, wie man dieser Seuche beikommen könnte. Aber ich glaube schon, dass der Innensenator und die Polizei sich etwas einfallen lassen sollten. Bis dahin wünsche ich mir die von den südosteuropäischen Wanderputzern vertriebenen Punker zurück.“ 8

Neben dem Klischee von der „osteuropäischen Bettelmafia“ gibt es auch erkennbar inhaltliche Überschneidungen zwischen dem Sozialdarwinismus gegen Bettler*innen und Antiziganismus gegen Sinti und Roma. Die Vorurteils-Bilder der Mehrheitsgesellschaft über beide Gruppen ähneln sich teilweise. Ihnen wird unterstellt, ‚arbeitsscheu‘ und selbst an ihrer sozialen Lage Schuld zu sein.

Besonders die sozialrassistische Komponente hat inhaltliche Überschneidungen zur sozialdarwinistisch motivierten Bettler*innen-Feindlichkeit. Man könnte Bettler*innen- und Obdachlosen-Feindlichkeit teilweise als eine Art „struktureller Antiziganismus“ analysieren. Besonders von ausländischen Bettler*innen wird angenommen, sie seien Angehörige der Roma-Minderheiten in ihrem Herkunftsland. So richten sich gegen ausländische Bettler*innen nicht selten sowohl sozialdarwinistische, als auch antiziganistische Vorurteile. Inzwischen wird in einigen Medien offen von „Bettel-Roma“ geschrieben. 

Sozialdarwinistisch geprägte Diskurse über Bettler*innen und Obdachlose finden sich in Europa in größeren Bereichen der Gesellschaft. Das Aufgreifen und Verstärken von rechten Diskursen oder die rechte Aufladung dieser Mehrheits-Diskurse ist typisch für einen rechtspopulistischen Politik-Stil. Rechtspopulismus, verstanden als Stil des 'Politik-Machens', verfolgt die Strategie, solche Diskurse aufzugreifen, zuzuspitzen und als Anbieter autoritärer Lösungen davon zu profitieren. Deswegen werden Bettelnde schnell das angefeindete Subjekt einer rechtspopulistischen Politik.

Anders als bei den Parteien FPÖ und BZÖ in Österreich, wurde das Thema bei der organisierten extremen Rechten in der Bundesrepublik nur regional aufgegriffen. Im September 2014 forderte beispielsweise der NPD-Stadtrat Gerhard Pietsch in Halle, Bettler*innen aus der Innenstadt zu verbannen Dabei sprach er von einer „in letzter Zeit immer häufiger auftretende Bettelei ausländischer, mafiaartigen Bettlerbanden” und zielte vor allem auf „Bettler mit osteuropäischem Hintergrund“9 .

Die bei den Reichstagswahlen mit knapp 13% unlängst sehr erfolgreichen „Schwedendemokraten“ forderten „Keine EU-Bettler in Schweden“. In Norwegen hat die Regierungskoalition aus der konservativen „Höyre“-Partei und der rechtspopulistischen „Fremskrittspartiet“ (FrP, Fortschrittspartei) ein gesetzlich geregeltes Bettelverbot beschlossen. Demnach können ab dem 1. Juli zunächst Kommunen und Gemeinden ein lokal beschränktes Bettelverbot aussprechen und ab 2015 soll dann ein Verbot für ganz Norwegen in Kraft treten. 

Grundsätzlich fungiert die extreme Rechte in Diskursen über Bettler*innen als Negativ-Verstärker, ist aber nicht notwendig. Diese Funktion können auch Vertreter*innen der etablierten Parteien der Mitte übernehmen.

Fazit: Bettelfeindlichkeit führt zu Ausgrenzung, Vertreibung und Gewalt 

Während die einen sich 'nur' negativ und abwertend über Bettler*innen äußern, fordern andere von den Behörden Maßnahmen und Dritte schreiten sogar selbst zur Tat. 

Generell wird Betteln gesellschaftlich kriminalisiert und Bettelnde werden wie andere Randgruppen in die Peripherie der Städte verdrängt. Das Ziel ist eine „saubere Innenstadt“ ohne sichtbare Verwerfungen des Kapitalismus oder andere Erscheinungen, die Bürgertum und Tourismus stören könnten. Besonders stark ist die Annahme einer „Bettel-Mafia“, ein bisher weitgehend unbewiesener Mythos. Es wird argumentiert, dass durch Bettelverbote Bettelnde vor Ausbeutung durch mafiöse Strukturen geschützt werden sollen. Doch handelt es sich um eine autoritäre 'Lösung' durch Vertreibung und Verdrängung derer, die angeblich die Opfer sind. Es geht damit nicht um Hilfe für die Betroffenen, sondern um nur um eine Legitimation repressiver Politik gegen Arme. 

Neben der Gewalt der Inhaber*innen des Gewaltmonopols gibt es wohl auch individuelle physischer Übergriffe gegen Bettler*innen, über die zu wenig bekannt ist. Ihre Kriminalisierung oder ihr zumindest schwieriger rechtlicher Status, sowie eine Sprachbarriere bei aus dem Ausland stammenden Bettler*innen sind hier starke Hindernisse bei der Erfassung von Gewalttaten gegen Bettler*innen. Es lässt sich feststellen, dass die forcierte Abwertung und Vertreibung von Bettler*innen und die Vermischung mit Rassismus und Antiziganismus ein Klima der Feindseligkeit gegen ausländische Bettler*innen schafft, das tätlichen Angriffen offenbar förderlich ist. Auf der Straße lebende Bettler*innen werden nicht selten in ihren Schlafstätten angegriffen.

Wichtig ist es, zu begreifen, wie der Charakter der Gesellschaft als Leistungs- und Arbeitsgesellschaft mit dem Sozialdarwinismus verbunden ist. Der Sozialdarwinismus entspringt den vorherrschenden Verhältnissen einer Wirtschaftsform, die immer aufs neue Verlierer*innen und Gewinner*innen hervorbringt. Die Abwertung der Verlierer*innen der Gesellschaft, darunter auch Bettler*innen, ist dabei auch eine Art des Umgangs mit der möglichen Gefahr, eines Tages selbst zu den Verlierer*innen zu gehören.

Lucius Teidelbaum,

hat 2013 im Unrast-Verlag das Büchlein „Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus“ veröffentlicht und betreibt den Blog http://berberinfo.blogsport.de, der sich vor allem der Gewalt gegen Obdachlose widmet.

Quellenverzeichnis:

Heitmeyer, Wilhelm: Rohe Bürgerlichkeit, in: DIE ZEIT Nr. 39/2011, 28. September 2011.

Kemper, Andreas/Weinbach, Heike: Klassismus. Eine Einführung, Münster 2009.

Ofner, Michael: Am Rand der Gesellschaft. Obdachlosigkeit im historischen Kontext und eine Analyse der Gegenwart, Diplomarbeit, Wien, Juni 2010.

Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab, München 2010.  

Steinke, Ron: Betteln verboten! Die Rückkehr einer Kriminalisierung, in: Transnational Concerns: Facetten der Globalisierung, Heft 4/2006, S. 128-130.


1 Max Winter: Im Unterirdischen Wien, Wien 1905, S. 19, zitiert nach: Michael Ofner: Am Rand der Gesellschaft. Obdachlosigkeit im historischen Kontext und eine Analyse der Gegenwart, Diplomarbeit, Wien, Juni 2010, S. 54. 

2 Andreas Kemper und Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung, Münster 2009, S. 47.                 

3 Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab, München, 13. Auflage 2010, S. 79-80.      

4 Michael Ofner: Am Rand der Gesellschaft. Obdachlosigkeit im historischen Kontext und eine Analyse der Gegenwart, Diplomarbeit, Wien, Juni 2010, S. 21

5 Wilhelm Heitmeyer, Rohe Bürgerlichkeit, DIE ZEIT Nº 39/2011, 28. September 2011, http://www.zeit.de/2011/39/Verteilungdebatte-Klassenkampf

6 Ron Steinke: Betteln verboten! Die Rückkehr einer Kriminalisierung, Transnational Concerns:
Facetten der Globalisierung, Heft 4/2006, S. 128-130, http://www.forum-recht-online.de/2006/406/406steinke.htm       

7 Ebd.

8 Neuköllns Bezirksbürgermeister zum Thema Nerv-Bettler. Es geht nicht um Not und Elend, sondern um organisierte Kriminalität“, 11.06.2014, http://www.bild.de/regional/berlin/betteln/es-geht-nicht-um-not-und-elend-sondern-um-organisierte-kriminalitaet-36334628.bild.html#remId=1467863265904991876             

9 NPD-Stadtrat will Bettler verbannen, 13. September 2014, http://hallespektrum.de/nachrichten/vermischtes/npd-stadtrat-will-bettler-verbannen/114649/        

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