ZAG
Mit dem Schwerpunkt Klassismus haben wir die theoretische Diskussion in der akademisch geprägten linken Szene aufgegriffen. Die Diskussion über Klassismus kommt uns einerseits sehr gelegen, weil wir in den Kämpfen gegen Rassismus, Sexismus und alle Übel der Welt zuviel Moral, zuviel Aufforderung zur Reflexion, zuviel Kulturalismus und zuwenig materialistische Analyse der Verhältnisse gesehen haben. Die Debatte ist uns aber auch ein Dorn im Auge, weil wir die Befürchtung haben, dass mit dem Begriff des Klassismus nun auch noch eine analytische Kategorie kulturalistisch verkürzt wird, die in ihrem Ursprung das Potential hat, die ökonomischen Verhältnisse zu analysieren und die Machtfrage zu stellen.
Andreas Kemper präsentiert Klassismus als Ergänzung zur Klassenanalyse der ökonomischen und gewaltvollen Klassenverhältnisse in Produktion und Staat. In »Was ist Klassismus?« beschreibt er die Herkunft des Begriffs aus seinem US-amerikanischen Kontext aus der Bürgerrechtsbewegung und zeigt auf, dass die Reproduktion alltagskultureller Klassismen es den Betroffenen schwer macht, sich zu organisieren, weil die klassischen Arbeiterbewegungsorganisationen und Parteien eher von der Mittel- und Oberschicht dominiert werden.
Deborah Gülsen hingegen nimmt das System der Klassenherrschaft in Deutschland in den Fokus. Sie verweist vor allem auf die Relevanz der Bewusstmachung bestehender Verhältnisse und fordert Arbeiter und Arbeiterinnen dazu auf, sich nicht mehr spalten zu lassen, sich stattdessen gemeinsam stark zu machen und auf internationaler Ebene gegen die Macht des Kapitals zu kämpfen.
Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann analysieren die Lage von Migrant_innen auf dem Arbeitsmarkt und zeigen, dass diese Gruppe noch mehr ausgebeutet wird als die meisten anderen Arbeitskräfte. Wie hier sichtbar wird, hat Rassismus seine eigene Funktion im Klassenverhältnis.
Lucius Teidelbaum widmet sich einer besonderen Form von Klassismus und Rassismus: Die aggressive Vertreibung von Bettler_innen aus den Innenstädten und die klassistischen und rassistischen Begründungen, mit denen diese rohe Bürgerlichkeit legitimiert wird.
Anne Steckner und Mario Candeias setzen sich aus einer klassenanalytischen Perspektive mit einer Konsumkritik auseinander, die auch im linken politischen Spektrum eine teilweise unreflektierte Verbreitung gefunden hat. Natürlich wird die Unterschicht von der Linken nicht wie bei Sarrazin oder bei Westerwelle der Dekadenz bezichtigt. Aber die Forderung von Qualität statt Quantität oder von gesunder (Biomarkt-) Ernährung ist hier schon anschlussfähig. Doch welche Funktion hat Konsum für verschiedene Schichten? Ist die Gesundheits- und Qualitätsorientierung wirklich allen zugänglich oder schon Teil der Klassenungleichheiten? Und vor allem: Wie könnte der Konsum umorganisiert werden, um Konsum allen Menschen gesellschaftlich zu ermöglichen?
Joana-Eve Rendelmann beobachtet, dass die Analysekategorie »Klasse« weitgehend aus der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen wurde, weil sie das (Chancen-)Gleichheitsversprechen bürgerlicher Gesellschaften in Frage stellt. Stattdessen wird zum Beispiel von der Bundeszentrale für politische Bildung der Begriff der sozialen Mobilität stark gemacht. Doch genau betrachtet ist die Immobiliät der Normalfall. Warum erscheint Mobilität in der öffentlichen Debatte als Normalfall?
Eleonora Roldán Mendívil hat einen kulturwissenschaftlichen Zugang zum Thema Klassismus gewählt, und im zeitgenössischen Rap zahlreiche klassenkämpferische Elemente aufgezeigt. Sie ruft dazu auf, eine Bündnispolitik zu entwickeln, die auch solche Menschen einschließt, die sich (sub-)kulturell von der linken Szene unterscheiden und die linksradikal-akademisch-oberklassigen Sprechweisen nicht beherrschen und vielleicht sogar ablehnen.
Haben wir nun mit unserem Einstieg in die Klassismus-Debatte, wie Ursula Müller es in ihrer Polemik zuspitzt, eine neue Sau durchs Theorie-Dorf gejagt, die uns dabei hilft, die Debatten innerhalb der Linken mit neuen Herkunftsbekenntnissen und Schuldzuschreibungen zu versehen? Müller zufolge ist zum Thema Klasse schon alles gesagt und geschrieben. Wir müssten uns nur daran erinnern, wie das mit dem Lesen ginge.