Im September entdeckte ein Polizist in Swiblowo, einem Stadtteil im Norden Moskaus, dass in den Dienstwohnungen seiner Vorgesetzten Dutzende Migrant_innen gemeldet waren. »Gummiwohnungen« lautet der Jargon für Adressen, unter denen gegen entsprechende Bezahlung Mittelspersonen meldepflichtige Ausländer_innen registrieren. Diese Praxis ist illegal, aber weit verbreitet, und wäre ohne die Deckung durch korrupte Angehörige der Polizeibehörden in dem Ausmaß gar nicht denkbar. Jener Polizist nahm seine Pflichten offenbar zu ernst. Er konfrontierte seine Vorgesetzten mit seinen Ermittlungsergebnissen, was ihm Verhöhnungen, eine zwölfstündige Wachschicht und anschließendem Krankenhausaufenthalt wegen völliger Erschöpfung und Dauerstress einbrachte und ihn letztlich seinen Job kostete. Seine Ermittlungen verliefen im Sande.
Seit Jahren sind die »Gummiwohnungen« immer wieder Schlagzeilen wert; ebenso wie die prekäre Lage von Migrant_innen insbesondere aus Zentralasien, die häufig als »illegal« gebrandmarkt werden, weil viele an den bürokratischen Hürden für eine Arbeitsgenehmigung scheitern. Im Übrigen sind aus der Perspektive illegalisierter Flüchtlinge und Migrant_innen bestechliche lokale Polizist_innen verlässlicher als rechtliche Bestimmungen. Viele leben in Moskau über Jahre ohne Papiere, darunter beispielsweise auch eine ganze Reihe afghanischer Flüchtlinge, die seit Anfang der 1990er keine Chance erhalten einen legalen Aufenthaltsstatus zu erwerben.
Für Staatsbürger_innen der meisten ehemaligen Sowjetrepubliken ist die Einreise ohne Visum möglich, aber ein Aufenthalt ohne entsprechende Genehmigung ist gesetzlich nur bis zu 90 Tagen vorgesehen.1) Ukrainer_innen lösen das Problem durch regelmäßige Ausreisen in das nahegelegene Nachbarland, der Weg nach Usbekistan oder Tadschikistan ist von Moskau jedoch zu weit und zu teuer. Die Quoten für ausländische Arbeitskräfte sind viel zu niedrig angesetzt, das Beantragungsprozedere für Arbeitgeber zu kompliziert und langwierig. Aber auf der Suche nach Arbeit kommen sie trotzdem, die im Russischen ohne sowjet-freundschaftlichen Unterton mit dem deutschen Wort »Gastarbeiter« bezeichneten Migrant_innen. Dabei verdienen alle kräftig mit: kommunale Dienstleister_innen, die sich an billigen Arbeitskräften bereichern, Wohnungsvermieter_innen, der Handel, auch Behörden und letztlich auch die Konsument_innen. Und für die Herkunftsländer sind die Überweisungen aus Russland ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: In Tadschikistan bilden diese fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts.
An den Fakten ändert sich seit Jahren wenig. Gelegentlich machte der Migrationsdienst in der Vergangenheit mit Initiativen auf sich aufmerksam, die zumindest in Ansätzen mit einer den Verhältnissen angepasste Regulierung des Aufenthaltes von Arbeitsmigrant_innen aufwarteten. Sogar von einer Amnestie für Illegalisierte war zwischenzeitlich halbherzig die Rede. Aber das war noch vor den rassistischen Ausschreitungen im Süden Moskaus im Oktober nach dem Mord an einem jungen Russen, den ein Mann aus Aserbaidschan begangen haben soll. Den Krawallen voraus gingen zahlreiche »Razzien« in Unterkünften von Migrant_innen, die Gruppierungen aus dem rechtsradikalen Spektrum durchführen – gedeckt durch den Staatsapparat. Der verschafft sich durch repressive Maßnahmen einerseits eine gewisse Kontrolle über die Rechten, anderseits wartet er aber auch mit attraktiven Angeboten auf, wie beispielsweise der Übertragung von Funktionen an eine Art »Volkspolizei«.
Überdies fanden gewalttätige »Razzien« in Wohnheimen im Auftrag der Partei »Gerechtes Russland« statt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat von Migrant_innen zu miserablen Löhnen besetzte Arbeitsplätze bei kommunalen Dienstleistern für die lokale Bevölkerung zugänglich zu machen. Dabei stehen in Moskau inzwischen bis zu einem Drittel solcher Stellen offen und es lässt sich aufgrund der in dem Bereich gängigen Ausbeutungsverhältnissen keine große Nachfrage feststellen.
Vermutlich waren die Voraussetzungen für eine rationale, an den Bedürfnissen von Migrant_innen oder auch der russischen Wirtschaft orientierten Migrationsdebatte noch nie so schlecht wie heute. Derzeit preschen praktisch alle politischen Kräfte im Land mit oftmals absurden repressiven Vorschlägen und Gesetzesinitiativen vor: Schulverbot für Kinder ohne russische Staatsbürgerschaft oder wenn deren Eltern keine Steuernachweise erbringen, Ausweisungen im Falle von zwei begangenen Ordnungswidrigkeiten, hohe und vor der Einreise zu zahlende Rücklagen für den Fall einer Abschiebung und so weiter. Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin sprach sich darüber hinaus explizit gegen Integrationsmaßnahmen für Migrant_innen aus. Jede noch so einschränkende Maßnahme scheint derzeit umsetzbar, nur bei der von nationalistischen Politiker_innen, wie auch dem in der liberalen Opposition hofierten Aleksej Nawalnyj, befürworteten die Einführung der Visapflicht für alle »nichtslawischen« ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Herrschenden im Kreml weichen keinen Millimeter von ihrer derzeitigen Linie ab: Visa würden dem Ausbau der eurasischen Wirtschaftsunion schaden und damit für Russlands Ökonomie zu deutlichen Einbußen führen.
Innenpolitisch hingegen gelten andere Gesetzmäßigkeiten, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis das Migrationsthema andere aktuelle und problembehaftete Bereiche von der Renten- oder Bildungsreform bis hin zur erwarteten wirtschaftlichen Rezession von der Tagesordnung verdrängt. Mehrere Faktoren haben seit dem vergangenen Sommer zu einer Eskalierung im Umgang mit Migrant_innen beigetragen. Einer davon ist den Massenprotesten von 2012 geschuldet, die zur teilweisen Rückkehr einer öffentlichen Politikkultur geführt haben. Dies manifestierte sich nicht nur in den erstmals seit zehn Jahren durchgeführten Bürgermeisterwahlen in Moskau, sondern auch in der wachsenden Unzufriedenheit weiter Bevölkerungsteile angesichts der allgegenwärtigen Korruption und der Erkenntnis, dass staatliche und kommunale Behörden ihrem Auftrag nur zu einem geringen Teil nachkommen. Es folgte die Bereitschaft, diesem Unmut Luft zu verschaffen. Je nach Ort und Konfliktlage unterliegen soziale Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene immer häufiger einer ethnischen Deutung, was kaum auf Gegenstimmen trifft und einer Art Kapitulationserklärung der wenigen emanzipatorisch politischen Akteur_innen gleichkommt, die einen alternativen Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse vermitteln könnten. Bezeichnend ist zudem, dass sich in Moskau alle Bürgermeisterkandidat_innen populistischer und Migrant_innen diffamierender Parolen bedienten. Dabei vermischen sich zunehmend verschiedene Ebenen. Ist von Migrant_innen die Rede, wird oftmals nicht mehr unterschieden zwischen ausländischen Staatsbürger_innen und jenen, die aus einer der russischen Regionen stammen, ob aus dem Nordkaukasus oder dem asiatischen Teil Russlands. So verweigerten in St. Petersburg eine Richterin und ein Staatsanwalt einem jungen Mann aus der russischen Republik Tuwa die Anerkennung als Staatsbürger, da in Russland kein tuwinisches Volk existiere und der Pass des Mannes gefälscht sei. Dagestan oder Tschetschenien gilt im Sprachgebrauch und in der Wahrnehmung vieler ohnehin längst als Ausland.
Vor diesem Hintergrund wundert es wenig, dass eine gewalttätig ausgetragene Auseinandersetzung mit Händler_innen aus Dagestan auf einem Moskauer Markt Ende Juli als Begründung herhalten musste, endlich gegen »illegale« Migrant_innen vorzugehen. Der Konflikt fiel in den Zeitraum des Moskauer Wahlkampfs. Prompt errichtete die Migrationsbehörde Anfang August ein Abschiebelager aus Zelten, da die Kapazitäten in den vorhandenen Abschiebeeinrichtungen ausgeschöpft waren. Ausgerechnet vietnamesische Arbeiter_innen, die in den Migrationsdebatten eine völlig untergeordnete Rolle spielen, machten den größten Teil der über Tausend Internierten aus, darunter auch schwangere Frauen. Es fanden sich dort aber auch Flüchtlinge und Migrant_innen mit einem legalen Aufenthaltsstatus wieder. Die Zustände in dem Lager waren verheerend, angefangen von den sanitären Bedingungen bis zur Verpflegung. Angehörige durften keine Lebensmittel übergeben, für den nötigen Strom zur Aufladung von Handys kassierten Polizisten 1,20 Euro für zehn Minuten. Das zuständige Gericht stellte am Fließband Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht fest, auch in Abwesenheit der Beschuldigten. Dutzende Menschen wurden innerhalb kurzer Zeit abgeschoben.
Erst nach der Intervention des russischen Menschenrechtsbeauftragten erfolgte nach knapp vier Wochen die Schließung des Lagers und die Verlegung der Insass_innen in das Aufenthaltszentrum für Ausländer Nr. 1 im Norden Moskaus. Die Zustände in dem bei großzügiger Kalkulation für 400 Personen ausgelegten, aber ständig überfüllten Bau seien allerdings schlechter als im Lager, merkten dort internierte Migrant_innen bei einem Besuch von Menschenrechtsgruppen an. Schimmel an den Wänden, enge Kammern, kaum frische Luft: das Lager ist ein Gefängnis. Seit diesem Jahr gelten zwar neue und humanere Vorschriften für die Unterbringung in Abschiebeeinrichtungen, aber die werden sich in dem Gefängnisbau auch nach der im Oktober begonnenen Renovierung kaum umsetzen lassen. Die Migrationsbehörde übernimmt ab 2014 die Leitung des Zentrums Nr. 1 vom Innenministerium. Insgesamt sind 81 Abschiebezentren unter der Ägide der Behörde in Planung, etwa die Hälfte davon Neubauten. Abschiebungen mit einem folgenden Einreiseverbot nehmen seit geraumer Zeit stetig zu. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 wurden bereits knapp 40.000 Abschiebungen vorgenommen, während im gesamten Vorjahr die Zahl bei 35.000 lag. Für die steigenden Zahlen sorgt auch der Umgang mit Arbeitsmigrant_innen in Sotschi, die für eine termingerechte Fertigstellung der olympischen Objekte für die anstehenden Winterspiele sorgen sollten, nun aber nicht mehr in dem bisherigen Umfang gebraucht werden. Abschiebungen ohne Lohnauszahlung sind die Folge.
Gleichzeitig verschlechtern sich die Bedingungen für die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen einsetzen. Immer seltener stellen sich Erfolge ein, die Behörden stellen sich quer. Es kann von Glück gesprochen werden, wenn das Gericht sich weigert eine Abschiebesache zu verhandeln, wie jüngst im Fall eines nordkoreanischen Flüchtlings, dem bei Abschiebung die Todesstrafe droht und der mittlerweile im Asylverfahren steht. Mit der Anerkennung von Asyl tut sich Russland generell schwer. Derzeit sind knapp über 800 Flüchtlinge mit Asylstatus verzeichnet. Etwa 3000 verfügen wie der amerikanische Whistleblower Edward Snowden über einen vorübergehenden Status. In Vyborg, nahe der finnischen Grenze, überredeten Mitarbeiter_innen der Migrationsbehörde syrische Flüchtlinge ihren Asylantrag zurückziehen mit dem »Argument«, die Antragsprozedur nehme ein ganzes Jahr in Anspruch und im gesamten Zeitraum müssten sie in Abschiebehaft bleiben. Sie könnten stattdessen in die Türkei oder nach Libyen ausreisen, was der Auffassung des russischen Außenministeriums und der Migrationsbehörde widerspricht, die für einen Abschiebestopp eintreten, solange die Kriegshandlungen in Syrien andauern.
Nach den von Neonazis angeheizten rassistischen Ausschreitungen im Moskauer Stadtteil Birjuljowo Mitte Oktober 2013 eskalierte die Situation in Moskau regelrecht. Ungewollt geraten Migrant_innen zwischen die Räder der russischen Politik. Der riesige Gemüsegroßhandel in Birjuljowo, in dem der vermeintliche Mörder an einem jungen Russen beschäftigt war und gegen den sich die Kritik von Anwohner_innen seit geraumer Zeit richtet, sollte schon vor Jahren geschlossen und ins Moskauer Umland verlegt werden. Doch die Pläne der Stadt ließen sich angesichts der wirtschaftlichen Interessen der Eigner, die über enge Beziehungen im Kreml verfügen nicht umsetzen. Erst die Deklarierung eines faktischen Ausnahmezustands, in dem Migration als Grund allen Übels eine Schlüsselfunktion zukommt, macht die Umverteilung ökonomischer Einflusssphären möglich. Der Gemüsegroßhandel ist geschlossen und wird verlegt, alle Märkte im Umland sollen geschlossen und durch Einkaufszentren und Supermärkte ersetzt werden. Dixi und andere Supermarktketten stellen inzwischen offiziell keine nichtrussischen Staatsbürger_innen mehr ein. Die Hetze gegen Migrant_innen zeigt erste Auswirkungen: viele wollen Russland verlassen oder haben sich bereits in Richtung ihrer Herkunftsländern aufgemacht.
FUßNOTE:
1) Seit dem 1. Januar 2014 gelten neue Regelungen im Aufenthaltsgesetz für Staatsangehörige der GUS-Staaten, die sich ohne Visum in Russland bis zu 90 Tage aufhalten können. Bislang war es möglich, die Grenze nach 90 Tagen Aufenthalt zu überqueren und dann wieder für 90 Tage einzureisen. Ab sofort ist die Aufenthaltsdauer ohne Visum oder einen anderen Status auf 90 Tage im Halbjahr begrenzt.