Staatliche Bündnisse und Programme gegen (Rechts-)Extremismus, Rassismus, Antisemitismus oder auch nur gegen Gewalt führen hierzulande häufig den Begriff »Toleranz« im Namen. Da gibt es beispielsweise das 2000 unter Federführung von Innen- und Justizministerium gegründete »Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt«. Das Anti-Extremismus-Programm von Familienministerin Kristina Schröder heißt seit Anfang 2011 »Toleranz fördern – Kompetenz stärken«, auch die Vorläuferprogramme zierten sich mit dem T-Wort: »Jugend für Toleranz und Demokratie« sowie »Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie«. Aber selbst zivilgesellschaftliche Organisationen schmücken sich häufig damit, etwa das »Netzwerk Tolerantes Sachsen«. All diese Programme und Initiativen berufen sich auf Toleranz, um gegen bestimmte Ideologien und Organisationen vorzugehen – diese sollen also gerade nicht toleriert werden
Ein besonders schönes Beispiel für diesen Widersinn stammt aus dem sächsischen Limbach-Oberfrohna: Hier gründete sich im März 2010 auf Initiative des örtlichen CDU-Vorsitzenden und Landtagsabgeordneten ebenfalls ein »Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt«. Origineller als in der Namenswahl zeigte sich dieses Bündnis in der tatsächlich praktizierten Toleranz: Mitwirken wollte auch ein NPD-Stadtrat, wogegen zunächst niemand etwas einzuwenden hatte. Die NPD sei schließlich eine zugelassene Partei, daher könne man ihr auch nicht einfach so verwehren, am neuen Bündnis teilzunehmen, argumentierte der Bündinsinitiator von der CDU.1) Als öffentliche Kritik an diesem recht weiten Toleranzverständnis laut wurde, schloss das Bündnis auf seiner nächsten Sitzung sowohl das NPD-Mitglied als auch die Vertreter_innen der Linkspartei aus. Man habe »mit demokratischen Mitteln nichtdemokratische oder extremistische Parteien ausgeschlossen«, begründete dies der CDU-Politiker.2) Auch dieses Bündnis hatte also erkannt, dass man intolerant sein muss, um Toleranz einzufordern. Nur formal demokratisch muss es dabei zugehen.
Der in Limbach-Oberfrohna vorbildlich, wenn auch mit Anlaufschwierigkeiten praktizierten In-Toleranz gegenüber »extremistischen Parteien« entspricht in der sogenannten Extremismustheorie das Gebot der Äquidistanz: Die von vornherein für nicht-extremistisch und demokratisch erklärte »Mitte« soll zu allen Formen des »Extremismus« (Links-, Rechts-, Ausländer- und islamistischer E.) gleichermaßen Abstand halten.3)
In seinem Essay »Repressive Toleranz« von 1965 hat Herbert Marcuse die »aktive, offizielle Toleranz, die der Rechten wie der Linken gewährt wird, aggressiven wie pazifistischen Bewegungen, der Partei des Hasses ebenso wie der der Menschlichkeit« als »unparteiische Toleranz« bezeichnet. Indem diese sich nicht zu einer Seite bekenne, schütze sie »in Wirklichkeit die bereits etablierte Maschinerie der Diskriminierung« und ist ebenso wie die »passive Duldung verfestigter und etablierter Haltungen und Ideen« Teil der von ihm als repressiv kritisierten Toleranz.4)
Marcuses eigentlicher Fokus war dabei die von »institutionalisierter Ungleichheit« geprägte Sozialstruktur der (Klassen-)Gesellschaft, vor deren Hintergrund die Forderung nach Toleranz die »Tyrannei der Mehrheit« stärkt und »hinsichtlich der etablierten Politik zum Zwangsverhalten« wird. Unter »optimalen Bedingungen« könne sich ein demokratisches System sogar leisten, oppositionelle Gruppen und Minderheiten zu dulden, die eine grundlegende Veränderung des Systems anstreben. Durch die Konzentration ökonomischer und politischer Macht sei die Herausbildung und Artikulation effektiver Abweichungen gerade im Bereich der Meinungsbildung defacto gehemmt und blockiert. Angesichts einer »überwältigenden Mehrheit, die sich einer qualitativen gesellschaftlichen Änderung widersetzt«, würden oppositionelle Gruppen daher meist »harmlos und hilflos« dastehen.
In Deutschland herrschen offenbar keine solch »optimalen Bedingungen« – zumindest aus Perspektive der sich um »extremistische« Bestrebungen sorgenden Wissenschaftler_innen und deren Pendants auf Seiten der Exekutive. Anders als in den USA, die Marcuse bei seiner Skizze vor Augen hatte, orientiert man sich hierzulande bekanntlich am Leitbild einer »streitbaren« oder »wehrhaften Demokratie«. Verwiesen wird dabei oft auf eine Rede von Carlo Schmid 1948 im Parlamentarischen Rat: »Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.«
Als Ausdruck dieser Vorstellung erlaubt das Grundgesetz unter anderem die Einschränkung bzw. Verwirkung bestimmter Grundrechte sowie das Verbot von Vereinigungen und Parteien, die sich gegen die »freiheitliche demokratische Grundordnung« (FdGO) richten. Was diese genau beinhaltet, wurde erst 1952 durch das Bundesverfassungsgericht im Urteil zum Verbot der in der Tradition der NSDAP stehenden »Sozialistischen Reichspartei« (SRP) festgelegt. Neben der Achtung der Menschenrechte – allerdings nicht der universellen, sondern nur der »im Grundgesetz konkretisierten« – zählen zu den grundlegenden Prinzipien der FdGO demnach vor allem Bestimmungen über den Staatsaufbau (Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität, Mehrparteieinprinzip, Recht auf Opposition).5)
Neben der SRP wurde in der BRD mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1956 bisher nur eine weitere Partei verboten. Beantragt wurden beide Parteiverbote 1951, nur drei Tage nacheinander – mehr Äquidistanz geht kaum. Ob mit der NPD bald eine weitere Partei dazukommt, wird sich zeigen. Der erste Anlauf zum Verbot der neonazistischen Partei war 2009 wegen V-Leuten des Verfassungsschutzes in den Führungsgremien der Partei aus formalen Gründen gescheitert.
Claus Leggewie und Horst Meier bezeichnen diese Behörde treffend als »institutionellen Arm eines westdeutschen Sonderweges, wie er in keiner anderen westlichen Demokratie existiert«.6) Die Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz (VS) wurden 1950 nicht zuletzt aus Misstrauen gegen die gerade erst entnazifizierten Deutschen ins Leben gerufen. Daneben spielte natürlich auch die Blockkonfrontation im Rahmen des Kalten Kriegs eine Rolle. »Im vorbeugenden Kampf gegen die ›Feinde der Demokratie‹ glaubte man, wirkliche Gefahren gar nicht erst abwarten zu dürfen – also machte man den bloßen politischen Verdacht zur allgemeinen Geschäftsgrundlage des Verfassungsschutzes.« Beobachtungsobjekte des VS sind u.a. Bestrebungen, die gegen die FdGO gerichtet sind. Im Sprachgebrauch der Ämter werden solche Bestrebungen auch als »extremistisch« bezeichnet,7) obwohl Extremismus selbst kein Rechtsbegriff ist. Wer als »Extremist« oder »Extremistin« gilt, legen die Ämter mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken oder gemäß den Vorgaben der ihnen jeweils vorstehenden Regierungen fest.
Flankenschutz erhält der VS dabei von der sich seit den 1980er Jahren entwickelnden »Extremismusforschung«, für die maßgeblich die seit langem in Sachsen lehrenden Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckard Jesse sowie deren Schüler_innen stehen. Unter »Extremismus« verstehen sie die Ablehnung des »demokratischen Verfassungsstaates« und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln – im Grunde wieder die FdGO-Prinzipien.8) Als wirkungsmächtig hat sich besonders das von Backes und Jesse geprägte »Hufeisenschema« erwiesen: Die Unterscheidung zwischen einer als demokratisch geltenden »Mitte« und extremistischen »Rändern« auf der linken und rechte Seite des politischen Spektrums. Diese stehen sich laut diesem Modell zwar diametral gegenüber, nähern sich einander aber in ihrer Feindschaft zum »demokratischen Verfassungsstaat« wieder an. Diese Gleich- bzw. Äquivalentsetzung kommt auch in folgenden Diktum von Jesse zum Ausdruck: »Der Rechtsextremismus verneint das ethische Prinzip der Fundamentalgleichheit der Menschen, der Linksextremismus verabsolutiert – in der Theorie – das Gleichheitsdogma.«9)
Das Prinzip der Gleichheit dient in diesem Modell also gegenüber dem einen »Extremismus« als positives Ideal (»Fundamentalgleichheit«), gegenüber dem anderen jedoch zur Abgrenzung (»Gleichheitsdogma«). Unklar bleibt dabei, wer darüber entscheidet, ab wann es zuviel wird mit der Einforderung von gleichen Rechten, gleicheren sozialen Verhältnissen usw. Im Zweifelsfall der Verfassungsschutz und dessen Expert_innen. Klar ist dagegen, dass die von vornherein für nichtextremistisch erklärte »Mitte« bzw. das »demokratisch-konstitutionelle Spektrum« kein Thema für die Extremismusforscher_innen sind. Bedroht ist der »Verfassungsstaat«, der hier das Maß aller Dinge darstellt, immer nur durch Randgruppen und Minderheiten. Problematische Zustände und Entwicklungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft bzw. das System im Ganzen werden systematisch ausgeblendet.
Wer diese Sichtweise kritisiert, gilt schnell selbst als »Extremist_in«. So weist das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz in seinem Bericht für 2011 unter der Überschrift »Angriff ist die beste Verteidigung« besorgt darauf hin, dass »Linksextremisten« neuerdings die Kategorie »Linksextremismus« in Frage stellen und »ihre Angriffe verstärkt gegen die so genannte ›Extremismustheorie‹ richten«.10)
Unter Verdacht stehen aber nicht nur erklärte Kritiker_innen des Extremismusmodells, sondern alle Vereine und Initiativen, die Fördermittel aus den Toleranz-Programmen des Bundes sowie des Freistaats Sachsen bekommen wollen. Diese müssen sich seit 2011 schriftlich zur »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« bekennen und auf diese Weise jedem »Extremismus« abschwören.11) Als diese sogenannte Extremismusklausel (offiziell: Demokratieerklärung) erstmals in die Kritik geriet, entgegnete die verantwortliche Bundesministerin Kristina Schörder nur: »Wer damit ein Problem hat, demaskiert sich selbst.«12)
Das von Marcuse konstatierte »Laissez-faire der verfassungsmäßigen Behörden«, zu dem das Ideal der Toleranz verkommen sei, hat in Deutschland also einen besonders beklagenswerten Zustand erreicht. Statt Opposition und abweichende Ansichten erst dann zu beschneiden, wenn diese mit Gewaltanwendung einhergehen oder zum gewaltsamen Umsturz aufrufen oder einen solchen organisieren, werden verdächtige Bestrebungen hierzulande schon weitaus eher mit dem rein formalen Label »extremistisch« belegt und auf diese Weise aus dem gesellschaftlich akzeptierten Meinungsspektrum verdrängt. Die von der Extremismustheorie legitimierte und von den staatlichen Vollzugsorganen praktizierte Gleichsetzung von rechten, linken und anderen »Extremismen« ist darüber hinaus eine (allerdings in ihr Gegenteil verkehrte) Variante der »unparteiischen Toleranz«, die tatsächlich konservative und reaktionäre Tendenzen befördert oder zumindest den gesellschaftlichen Status Quo gegen grundlegende Kritik abzusichern versucht.
Marcuses Plädoyer für eine »befreiende Toleranz«, die eine »Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts […] und Duldung von Bewegungen von links« beinhalten würde, mag paradox erscheinen. Sein Vertrauen in die Möglichkeit, »rational auf empirischem Boden« zwischen »wahrer und falscher Toleranz, zwischen Fortschritt und Regression« zu unterscheiden ist zumindest fragwürdig. Es ist aber keinesfalls widersinniger als Bündnisse und Initiativen, die sich ständig auf Toleranz und Demokratie berufen und gleichzeitig zur Intoleranz gegenüber einem rein formal bestimmten »Extremismus« aufrufen.
Weitere Informationen:
Fußnoten:
1) Vgl. www.publikative.org/2010/03/10/sachsen-npd-10
2) Vgl. www.publikative.org/2010/03/25/extremismus-buendnis-100
3) Vgl. Jesse, Eckhard (2006): »Grenzen des Demokratieschutzes in der offenen Gesellschaft – Das Gebot der Äquidistanz gegenüber politischen Extremismen«, in: Uwe Backes, Eckhard Jesse (Hg.): Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 493-520.
4)Marcuse, Herbert (1996): »Repressive Toleranz«, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt: Suhrkamp, zit. nach www.marcuse.org/herbert/pubs/60spubs/65reprtoleranzdt.htm
5)Vgl. Schulz, Sarah (2011): »Vom Werden der fdGO: Das Verbot der Sozialistischen Reichspartei von 1952. Zur Geschichte des ›Politischen Extremismus‹«, in: Standpunkte 7/2011, hg. v. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin (www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_07-2011.pdf) sowie Liebscher, Doris (2012): »FDGO – Zur Idealisierung des verfassungsrechtlichen Demokratiebegriffs in der Extremismusdebatte«, in: Susanne Feustel / Jennifer Stange / Tom Strohschneider (Hg.): Verfassungsfeinde? Wie die Hüter von Denk- und Gewaltmonopolen mit dem »Linksextremismus« umgehen, Hamburg: VSA, S. 123-133.
6)Leggewie, Claus / Meier, Horst (2012): »›Verfassungsschutz‹«. Über das Ende eines deutschen Sonderwegs«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 10/2012, S. 63-74 (www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2012/oktober/%C2%BBverfassungsschutz%C2%AB).
7) Zumindest seit 1974/75, als der Begriff in den VS-Berichten den bis dahin gebräuchlichen Ausdruck »radikal« ablöste. Vgl. Oppenhäuser, Holger (2011): »Das Extremismen-Konzept und die Produktion von politischer Normalität«, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.): Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 39 f.
8)Vgl. zur Kritik u.a. Schubert, Frank (2011): »Die Extremismus-Polizei. Eine Kritik des antiextremistischen Denkens mit Jacques Rancière«, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung, a.a.O., S. 102-116, sowie ders. (2011): »Von der FdGO zum Gleichheitsdogma – Kategorie(n) des ›Linksextremismus‹«, in: Ordnung und Unordnung (in) der Demokratie, hg. v. weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen u.a., Dresden, S. 35-46 (www.weiterdenken.de/downloads/Unordnung_Download.pdf).
9)Jesse, Eckard (2004): »Formen des politischen Extremismus«, in: Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme (Texte zur inneren Sicherheit), hg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin, S. 10.
10)LfV Sachsen (2012): Verfassungsschutzbericht 2011, S. 110.
11)Vgl. Oppenhäuser, Holger (2012): »Ordnungen, Berichte, Klauseln und Bescheide. Zur Rolle der Exekutivorgane im Extremismus-Dispositiv«, in: Feustel/Stange/Strohschneider, a.a.O., S. 46-56.
12)Die Welt vom 29.01.2011 (»Mehr Geld und viel mehr Ärger«, www.welt.de/print/die_welt/politik/article12377880/Mehr-Geld-und-viel-mehr-Aerger.html).