Zwanzig Jahre liegt das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen inzwischen zurück. Und die Frage nach der Rolle von Antifaschist_innen und Antirassist_innen in diesen frühen Jahren des vereinigten Deutschlands angesichts von rassistischen und nationalistischen Mobilisierungen ist derzeit aktueller denn je: Denn wer in diesen Tagen die Hetze von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gegen Roma-Flüchtlinge aus Serbien und Montenegro verfolgt hat, der und die kann sich nur zurückversetzt fühlen in die Wochen und Monate, die zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zwischen dem 23. und 26. August 1992 geführt haben. Dabei bedient sich Friedrich der klassischen Instrumente rassistischer Mobilmachungen: Aus einer kleinen Gruppe von knapp 7.000 Flüchtlingen in diesem Jahr wird eine »Flut von offensichtlich unbegründeten Anträgen« und natürlich darf auch der Verweis auf die knappen Ressourcen nicht fehlen. Entsprechend heißt es in einem Brief Friedrichs an die EU Kommission, die Flüchtlinge würden »unsere ohnehin schon angespannten Aufnahmesysteme belasten«.1) Unverhohlen droht der Bundesinnenminister zudem mit Sanktion und Rechtsbrüchen, wünscht sich ein 48-Stunden Asylschnellverfahren und kündigt gekürzte Bargeldleistungen für die Betroffenen im Asylverfahren an.
wirken wie synchronisiert: In Wolgast (Mecklenburg-Vorpommern) mobilisieren Anwohner_innen, Freie Kameradschaften und NPD seit Wochen gemeinsam gegen eine im Sommer neu eröffnete Unterkunft für rund 200 Flüchtlinge mitten in einem als sozialer Brennpunkt bekannten Plattenbau-Viertel der Stadt. Am 9. November 2012 – dem 74. Jahrestag der Pogromnacht – planen NPD und Neonazis hier einen Fackelmarsch gegen »Asylmissbrauch«, der direkt zur Unterkunft führen soll.2) Die neonazistischen Parolen von »Asylschwemme« und »Asylmissbrauch« sind kaum zu unterscheiden von einschlägigen Statements von Politiker_innen aus der so genannten demokratischen Mitte. In Sachsen mobilisiert die NPD zu Neonazi-Kundgebungen vor Flüchtlingsheimen und Gebetsräumen in rund einem Dutzend Städten.
Die Kapitulationserklärung vor dem rassistischen Mob und seinen Zuschauer_innen war kurz:
»Es besteht einheitliche Auffassung dazu, dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann«, so die »Lageeinschätzung« des Landesratsamt Hoyerswerda am 20. September 1991 um 12 Uhr mittags. Nicht einmal 24 Stunden später werden 240 Asylsuchende aus einem Dutzend unterschiedlichster Herkunftsländer in den frühen Morgenstunden des 21. September 1991 in Busse verfrachtet – und unter dem johlenden Beifall der jugendlichen und älteren Zuschauer_innen mit SEK-Begleitfahrzeugen aus der einstigen sozialistischen Musterstadt gefahren. Einige Naziskins haben auch jetzt noch nicht genug und schmeißen Steine und Flaschen auf die abfahrenden Busse; dabei wird ein Flüchtling durch Glassplitter erheblich verletzt. Offen grölen Naziskins in die laufenden Kameras den sich rasend schnell übers ganze Land ausbreitenden
Schlachtruf »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« und erklären, dass Hoyerswerda erst der Anfang sein werde. In den Weg stellt sich ihnen niemand. Oder, in den Worten des Landratsamtes vom 20. September 1991: »Die übergroße Mehrheit der Anwohner im unmittelbaren Umfeld des Ausländerwohnheims sieht in den Handlungen der Störer eine Unterstützung ihrer eigenen Ziele zur Erzwingung der Ausreise der Ausländer und erklärt sich folgerichtig mit ihren Gewalttätigkeiten sehr intensiv solidarisch. Die polizeilichen Handlungen werden dagegen strikt abgelehnt.«
Wie es zu dem Pogrom kam, ist schnell erzählt. Am 17. September 1991 griffen mindestens acht Naziskins auf dem Marktplatz von Hoyerswerda zunächst einige vietnamesische Händler_innen an. Die Betroffenen wehrten sich und flüchteten dann in ein Vertragsarbeiterwohnheim in der Albert-Schweitzer-Straße 20–22, mitten im riesigen Plattenbauviertel WK X der damals noch über 50.000 Einwohner großen Stadt. Hier lebten auch noch rund 120 ehemalige Vertragsarbeiter_innen aus Mosambik und Vietnam. Sie waren mehrheitlich Mitte der 1980er Jahre in die DDR gekommen, hatten als junge Frauen und Männer Ausbildungen in Industrieberufen gemacht und wurden dann in den diversen Werkstätten und im Braunkohletagebaubetrieb VEB Schwarze Pumpe eingesetzt. Ihre Arbeitsverträge mit der Nachfolgegesellschaft LAUBAG AG waren zum Ende September bzw. Ende Dezember 1991 gekündigt worden.
Die Naziskins trauten sich zwar nicht in das Vertragsarbeiterwohnheim hinein, sie organisierten aber ziemlich schnell immer mehr »Kameraden«, so dass innerhalb weniger Stunden drei bis vier Dutzend junge Neonazis Parolen grölend und Steine schmeißend vor dem Wohnheim versammelten. Da es mindestens zwei Stunden dauern sollte, bis sich die ersten Polizeibeamten vor Ort blicken ließen, begannen die Vertragsarbeiter zu ihrem Schutz Müllcontainer auf die Straße zu schieben und gingen mit Knüppeln bewaffnet gegen die Nazis vor.
Am nächsten Tag, den 18.9.1991 griffen dann ab den frühen Abendstunden schon mehrere Dutzend Naziskins, mit Molotow-Cocktails und Steinen das Wohnheim für die Vertragsarbeiter_innen an. Nun begannen die Bewohner_innen um ihr Leben zu fürchten, denn eine völlig überforderte Polizei ließ die Angreifer weitestgehend unbehelligt – während AnwohnerInnen entweder teilnahmslos zusahen wie sämtliche Fenster des Heims eingeworfen wurden oder Beifall klatschten. Versuche der Vertragsarbeiter, die Angreifer durch das Werfen von Gegenständen zu vertreiben, führten nur zu kurzfristigen Rückzügen der Angreifer. Unter ihnen erkannten die VertragsarbeiterInnen auch viele ihrer deutschen Kollegen – vor allem Vorarbeiter – aus dem Braunkohletagebau.
Am 20. September 1991 um 13.50 Uhr notieren Polizeibeamte, offensichtlich erleichtert: »2 Kraftomnibusse mit 60 ausländischen Bürgern/AWH Albert-Schweitzer-Straße haben zwecks ordnungsgemäßer Rückführung Ort verlassen. Maßnahmen waren vom Ordnungsamt eingeleitet worden.« Ihr »Begleitschutz« von der sächsischen Polizei brachte sie mehrheitlich direkt nach Berlin und Frankfurt am Main, von wo sie nach Mosambik zurückkehrten.
Ermutigt durch ihren Erfolg richteten die rassistischen Angreifer ab dem 19. September 1991 dann ihre Attacken gegen das Flüchtlingswohnheim in der Thomas-Münzer-Straße, in dem seit dem Frühsommer 1991 rund 240 Flüchtlinge unter anderem aus Vietnam, Rumänien, Ghana, Iran, Bangladesch wohnen mussten. Sie waren aus den alten Bundesländern nach Sachsen zwangsumverteilt worden und schon in den Wochen zuvor immer wieder bei ihren wenigen Ausflügen in die Stadt von marodierenden Nazigruppen angegriffen worden. Sie wurden genau so wenig geschützt wie die Vertragsarbeiter und am 21. September 1991 mit Bussen unter SEK-Begleitung in Barackenheime im Umland verteilt. Die meisten von ihnen flüchteten entweder in Gruppen oder individuell dann nach Berlin und Niedersachsen weiter.
Die Bilanz jener fünf Tage im September 1991: Der Staat bzw. seine Exekutivorgane hatten sich aus gleich mehreren Kernaufgaben – dem Schutz von schutzlosen Minderheiten sowie der Verfolgung von Straftaten – komplett zurückgezogen. Insgesamt gab es 82 vorläufige Festnahmen in diesen fünf Tagen, daraus resultierten ganze vier Verurteilungen. Die Signalwirkung von Hoyerswerda war fatal. Neonazis feierten Hoyerswerda öffentlich als »erste ausländerfreie Stadt« und schnell wetteiferten bundesweit Nachahmer – Neonazis, rassistische Gelegenheitstäter und politisch rechts sozialisierte Jugendliche. Schon während der Pogromtage verbrannte in Saarlouis im Saarland der 27-jährige ghanaische Flüchtling Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft. Im sächsischen Thiendorf griffen Jugendliche ein Flüchtlingsheim an und verletzten acht Menschen. In Freital bei Dresden und in Bredenbeck bei Hannover schleuderten Neonazis Molotowcocktails auf Flüchtlingsheime. Im brandenburgischen Cottbus machte die Nationale Alternative (NA) gegen die dortige Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber mobil; weitere Brandanschläge z.B. in Münster, in March (Südbaden) und Tambach-Dietharz (Thüringen) folgten.
In Hoyerswerda und darüber hinaus sorgte die Kapitulation von Polizei und Justiz für ein enormes Selbstbewusstsein in der Neonaziszene, das bis heute ungebrochen anhält. Naziskins überfielen regelmäßig linke Jugendliche und Punks, erpressten »Schutzgelder« in Bordellen und ließen kaum eine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, dass sie jenseits der geltenden Gesetze handeln konnten. Wer Naziskins im Hoyerswerda der frühen 1990er Jahre treffen wollte, besuchte als allererstes den Jugendclub »N. Ostrowski« mitten im WKI, wo überforderte Sozialarbeiter zusahen, wie ihr Klientel jedes Wochenende woanders zuschlug. Zum Beispiel am 23. Oktober 1992 im nahen Geierswalde, wo 15 Nazis bei einem Angriff auf eine Diskothek die Aushilfskellnerin Waltraud Scheffler töten. Zu den regelmäßigen Besuchern des N. Ostrowski gehörten auch die Rädelsführer des Pogroms und die zwölf Angeklagten im Alter zwischen 20 und 25 Jahren, die von hier aus in den späten Abendstunden am 19. Februar 1993 aufbrachen, »um Zecken zu klatschen« und dabei Mike Zerna, den 23-jährigen Schlagzeuger der nicht-rechten Band Necromantics töten, dessen Bruder und weitere linke Jugendliche schwer verletzten.
1.483 rechtsextreme Gewalttaten registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) am Ende des Jahres 1991, 1992 stieg die Zahl um mehr als das Doppelte auf 2.584. Angesichts der massiven Dunkelfelder bei rechten Gewalttaten in den frühen 1990er Jahren muss man davon ausgehen, dass diese Zahlen nur einen winzigen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Begleitet wurde diese rassistische Mobilisierung von schizophrenen Medienkampagnen: Einerseits kommentierten zumeist westdeutsche Journalist_innen den nackten rassistischen Hass als Zivilisationsbruch; andererseits sekundierte nicht nur Boulevardmedien, sondern auch bürgerliche Magazine wie unter anderem der Spiegel am 9. September 1991 mit einem Bild eines schwarz-rot-gold angemalten Kahns voller Menschen unter dem Titel »Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten: Ansturm der Armen« den rassistischen Schlägern. Zu Jahresbeginn 1992, genauer gesagt am von Neonazis gefeierten Tag der Reichsgründung, dem 31.01.1992 stirbt bei einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Lampertheim (Hessen) eine dreiköpfige Familie aus Sri Lanka.
Nach den ersten Berichten über die beginnende Pogromstimmung in Hoyerswerda vor dem Heim der Vertragsarbeiter_innen, fuhr am Ende der Woche ein erster Konvoi autonomer Antifaschist_innen und Antira-Aktivist_innen gemeinsam mit bürgerlichen und kirchlichen Antirassismus- und Flüchtlingsunterstützungsgruppen nach Hoyerswerda. Ein derartig breites Bündnis ist heute kaum mehr vorstellbar. Es gab einige Gespräche mit Vertragsarbeiter_innen und Flüchtlingen, die deutlich machten, dass sie nicht länger in Hoyerswerda bleiben wollten. Konfrontationen mit dem rassistischen Mob fanden nicht statt. Und genau darin lag eine Schwäche der gesamten Mobilisierung. Eine Woche lang appellierten stattdessen bürgerliche und kirchliche Bündnisse inklusive einiger Mainstream-Medien an die Polizei und politisch Verantwortlichen in Sachsen, die rassistischen Angriffe zu unterbinden. Und auch viele unabhängige Antifa- und Antira-Aktivist_innen gaben sich zu diesem Zeitpunkt noch der Illusion hin, dass die Exekutive tatsächlich im Sinne der Angegriffenen handeln würde. Im Antifaschistischen Infoblatt (AIB) Nr. 41/1997 heißt es in der Rückschau sechs Jahre nach dem Pogrom: »Auch wir sind damals davon ausgegangen, dass die Staatsgewalt dem rassistischen Mob Einhalt gebieten würde – zumindest wenn eine Öffentlichkeit in Form von bürgerlichen Medien und humanitären Gruppen diese Forderung aufstellt. Erst als es zu spät war – nachdem sächsische SEK-Busse abends am 21. September 1991 die Flüchtlinge aus Hoyerswerda weggekarrt hatten – setzen sich Antifas und Antiras wieder in Bewegung, um die Flüchtlinge querbeet in sächsischen Dschungelheimen zu suchen. Ergebnis war die konkrete Unterstützung von rund 50 Flüchtlingen [aus Angola und Ghana], die dann nach Berlin kamen und forderten, nicht mehr in die Ex-DDR zwangsverteilt zu werden. Eine Woche später gab es dann die große Antifa-Demo mit ein paar tausend vor allem auswärtigen Teilnehmer_innen in Hoyerswerda, die in erster Linie vom Stress mit der Polizei und dem Streit untereinander geprägt war, ob die Demo jetzt eine Strafexpedition sein oder eher versuchen sollte, an das Gewissen und Bewusstsein der Bevölkerung zu appellieren. In der Folgezeit waren Antifas vor allem mit dem internen Streit über das richtige Vorgehen nach Pogromen beschäftigt. Eine genaue Bewertung, wie es dazu überhaupt kommen konnte, fand nicht statt. Hektische Betriebsamkeit ersetzte die Analyse.«
In diese Zeit fällt auch die zunehmende Spaltung von unabhängigen, linksradikalen Antifagruppen und Antira-Gruppen: Während erstere sich Wochenende für Wochenende vor allem beim Schutz von Flüchtlingsheimen und linken Zentren, Hausprojekten und besetzten Häusern und Treffpunkten insbesondere – aber nicht nur – in den neuen Bundesländern verausgabten, versuchten unabhängige Antirastrukturen in dieser Zeit vor allem die Zwangsverteilungen von Flüchtlingen in die ehemalige DDR ganz praktisch zu verhindern und die Betroffenen zu unterstützen. Im November 1991 besetzten rund 50 autonome Antira-Aktivist_innen in Berlin den dritten Stock des Mathegebäudes der Technischen Universität und gründeten dort ein Antirassistisches Zentrum mit dem erklärten Ziel, einen Schutzraum für alle Asylsuchenden zu schaffen, die aus den neuen Bundesländern flohen und dadurch so viel politischen Druck zu erzeugen, dass das System der Zwangsverteilungen gestoppt werden sollte. Parallel dazu besetzten autonome Aktivist_innen gemeinsam mit rassistisch verfolgten Flüchtlingen eine Kirche in Norderstedt bei Hamburg; verfolgte Roma-Flüchtlinge und ihre Unterstützer_innen besetzten den Dom in Münster. Heute ebenfalls kaum noch vorstellbar: Die Unterstützung, die die Leitung der TU Berlin für die Forderungen der Flüchtlinge nach einem Ende der Zwangsverteilungen ganz offen zeigte – auch, indem sie immer wieder versuchte, sich in die weitgehend erfolglosen Verhandlungen mit dem CDU-geführten Berliner Senat um eine Lösung für die zeitweilig 150 Flüchtlinge im Antirassistischen Zentrum einzuschalten und den Senat zum Einlenken zu bewegen.
Wenige Monate nach dem Ende des Antirassistischen Zentrums und der Besetzung der Kirche in Norderstedt im Frühjahr 1992 folgte dann das angekündigte Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Dem vorausgegangen war eine mediale Hetzkampagne. Schon wenige Wochen nach dem ersten Pogrom im vereinigten Deutschland im sächsischen Hoyerswerda hatte der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe in einem Brief alle Kreisverbände dazu aufgefordert, »in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und in den Länderparlamenten die Asylpolitik zum Thema zu machen«. Und parallel dazu drängte die CDU die oppositionelle SPD zur Zustimmung für eine Änderung des Artikels 16 GG. »Wenn sich die SPD beim Kanzlergespräch am 27. Dezember verweigert, ist jeder Asylant nach diesem Tag ein SPD-Asylant,« so Volker Rühe in der Süddeutschen Zeitung im September 1991. Es folgten die noch heute bekannten Titelbilder von »Spiegel«, »Bild« und anderen Zeitungen mit Überschriften wie »Das Boot ist voll«. In Rostock-Lichtenhagen hatten politisch Verantwortliche bewusst die Kapazität der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende des Landes Mecklenburg-Vorpommern nicht erhöht; Asylsuchende waren tatsächlich gezwungen im Freien zu schlafen und ihre Notdurft in den Büschen von Vorgärten der Plattenbausiedlungen zu verrichten. Die Bilder, die zur Rechtfertigung des Pogroms benutzt wurden, wurden so gezielt geschaffen.
Unmittelbar, nachdem am Sonntag, den 23. August 1992 die ersten Angriffe auf die ZAST bekannt geworden waren, machten sich in verschiedenen norddeutschen Städten und aus Berlin rund 200 autonome Antifaschist_innen auf den Weg nach Rostock. Ihre Absicht war, nach den Erfahrungen von 1991 in Hoyerswerda, Mannheim-Schönau und anderswo weitere Pogrome zu verhindern. Am Nachmittag hatten sich im JAZ – dem alternativen Jugendzentrum von Rostock – rund 60 und mehr Antifas zusammengefunden, um das weitere Vorgehen zu beraten. Das AIB schrieb fünf Jahre später unter der Überschrift »Fünf Jahre nach Rostock: Ein Blick zurück im Zorn« (AIB Nr. 41/1997, S. 41ff.): »Damit keine Missverständnisse auftauchen: Hier standen Leute, die seit Jahren mit militanten Auseinandersetzungen vertraut waren, die in anderen politischen Bereichen und zum Teil für weit unwichtigere Fragen lange Gefängnisstrafen oder ihre Gesundheit riskiert hatten und die nicht prinzipiell Gewalt ablehnten. Aus Lichtenhagen erreichten Augenzeugenberichte das Plenum. Während Antifas zum Teil noch anreisten, hatten sich bereits wieder erste Gruppen jugendlichen Mobs zusammengefunden, waren aber noch wenig entschlossen. Aus dem Haus, in dem die Vietnames_innen lebten [Sonnenblumenhaus, das Wohnhaus von über 100 vietnamesischen ehemaligen Vertragsarbeiter_innen] kamen Anrufe, die von neuen Angriffen berichteten. Für das jämmerlich unentschlossene Plenum stellte sich die Frage, was nun zu tun sei. Einzelne, gerade diejenigen, die schon vor Ort gewesen waren, plädierten dafür, vor das Haus zu ziehen und weitere Angriffe durch Präsenz zu verhindern, nötigenfalls mit Gewalt zurückzuschlagen. Es war eine realistische Einschätzung, dass zumindest die Chance bestand, hiermit die Situation grundlegend zu ändern. Es bestand tatsächlich die Möglichkeit, die Übergriffe zu verhindern, was unabsehbare Folgen für die weiteren Ereignisse hätte haben können. Damit bestand aber in diesen zwei oder drei Stunden die reale Chance, die kommende Pogromwelle bereits in ihrem Auftakt zu unterbinden.
Von der Mehrheit des Plenums wurde allerdings die Angst geäußert, dass man gegen den tobenden Mob keine Aussicht habe und die Gefahr bestehe, gelyncht zu werden. Diese Angst war sicherlich verständlich und wohl nicht ganz unbegründet. Doch die wenigen, die offen für ein sofortiges, direktes Eingreifen stimmten – […] – erklärten, dass es Situationen gebe, in denen man dann im Zweifelsfall bereit sein müsse, die entsprechenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen. […] Seit Jahren hatte man mit moralischen Argumenten Zivilcourage eingefordert, den schweigenden Augenzeug_innen etwa den 9. November
1938 zu Recht vorgeworfen, durch ihr Zusehen mitschuldig zu sein. Nun, selbst in eine vergleichbare Situation geraten, war die Angst um den eigenen weißen Hintern offenbar größer. Den moralischen Ansprüchen entsprach kein Bewusstsein darüber, wie man sich in der konkreten Situation selbst zu verhalten habe. Weder hatten wir uns selbst als Faktor der Geschichte ernst genommen, noch hatten wir uns ernsthaft klar gemacht, dass in solchen Situation im Zweifel auch Gefahr für unser eigenes Wohlergehen bestehen kann.«3) Der Rest ist schnell erzählt: Während einige autonome Antifas aus Rostock gemeinsam mit dem damaligen Ausländerbeauftragen von Rostock und einem ZDF-Kamerateam bei den Vietnames_innen blieben und mit ihnen auch die Brandnacht überlebten, gab es am 23. August 1992 noch zwei Demonstrationsversuche von autonomen Antifaschist_innen vor dem Sonnenblumenhaus – am späten Nachmittag und am späten Abend: hier griffen dann die zahlreich vor Ort anwesenden und ansonsten tatenlosen Polizisten ein und verhafteten rund 70 Antifas, die zwischen 12 und 24 Stunden in Gefangenensammelstellen verbracht wurden. Eine Woche nach dem Brand des schutzlosen Sonnenblumenhauses kamen dann rund 20.000 Menschen zu einer antifaschistischen Demonstration nach Rostock-Lichtenhagen. Doch das Resümee des AIB hat noch heute Gültigkeit: Dass dieses Pogrom sicherlich »eine der bedeutendsten Niederlagen der deutschen Linken nach 1945 war.«
Auch die Trennung von autonomer Antifa- und Antirabewegung wurde noch schärfer. Lediglich als es um die gemeinsame Mobilisierung gegen die endgültige Abschaffung von Artikel 16 GG am 26. Mai 1993 im Bundestag ging, gab es noch einmal eine gemeinsame Kampagne.
An die Fehler und die Niederlage der autonomen Antifa- und Antirabewegung der frühen 1990er Jahre zu erinnern, ist vor allem angesichts der aktuellen rassistischen Mobilisierungen dringend notwendig. Denn die zentrale Lehre aus Hoyerswerda und Rostock ist, dass öffentliche Appelle für ein Eingreifen von Polizei und anderen Exekutivorganen zugunsten von bedrohten Flüchtlingen immer dann völlig wirkungslos bleiben, wenn Pogrome oder pogromartige Situationen gerade ins politische Konzept passen. Das bedeutet aber auch, gemeinsam mit verlässlichen Bündnispartner_innen darauf vorbereitet zu sein, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun und nicht darauf zu hoffen, dass es andere tun werden oder dass »die Öffentlichkeit« schon rechtzeitig aufschreien wird. Wer die Situation in Wolgast und anderen Orten in diesen Tagen erlebt hat, weiß, dass praktische antifaschistische und antirassistische Solidarität notwendiger denn je ist.
Zur Autorin:
Hilde Sanft ist Korrespondentin des Antifaschistischen Infoblatts http://antifainfoblatt.de/
Zum Nach- und Weiterlesen:
AIB Nr. 95, Sommer 2012, Das Pogrom von Rostock – Reaktionen, Rückblicke, Reflexionen
Fußnoten:
1) »Balkan-Asylbewerber sollen weniger Geld bekommen«, Welt online 25.10.2012
www.welt.de/politik/deutschland/article110222036/Balkan-Asylbewerber-sollen-weniger-Geld-bekommen.html
2) Zur antifaschistischen Gegenmobilisierung: http://kombinat-fortschritt.com/2012/10/29/mv-wolgast-npd-fackelmarsch-blockieren/
3) AIB Nr. 41/1997, S.12ff, »Fünf Jahre nach Rostock: Ein Blick zurück im Zorn«.