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Gezielte „Über-Prekarisierung“

Ein Interview zur Situation der Roma in Marseille

Herr Rodier, Sie sind Arzt und für den Verein „Ärzte der Welt“ als Verantwortlicher des Bereiches „Roma“ in Marseille tätig. Können Sie kurz die Situation der Roma in Marseille und den Inhalt Ihrer Arbeit schildern?

Philippe Rodier: Seit ungefähr zehn Jahren leben Roma-Familien  in Marseille. Die meisten von ihnen stammen aus Rumänien. Im Laufe dieser Zeit hat sich ihre Situation dauerhaft verschlechtert. Anfangs bezogen die Familien unauffällig einige der damals zahlreichen leer stehenden Flächen in Vierteln in der Nähe des Hafens.  Diese brachliegenden Industriegebiete, leer stehenden Gebäude und verlassenen Grundstücke hatten für sie den Vorteil, dass sie gleichzeitig unbenutzt und zentrumsnah waren. Denn die wirtschaftliche Tätigkeit (Betteln und Sammeln) dieser Menschen findet in der Stadtmitte statt. Durch Sanierungsarbeiten in diesen Vierteln wurden ihre Lebensräume in die Peripherie der Stadt verlagert. Die lokale Politik möchte Roma daran hindern, sich im städtischen Raum niederzulassen und entwickelt hierfür von Tag zu Tag neue Strategien. Mittlerweile reagieren auch Eigentümer und die Polizei wesentlich schneller, wenn es darum geht, Roma bei dem kleinsten Anzeichen einer Besetzung zu vertreiben. Und da keine Aufnahmemöglichkeiten für diese Familien vorgesehen sind, leben sie auf Straßen und in Parks und sind dabei sowohl schlechtem Wetter als auch der Feindseligkeit der Bevölkerung ausgesetzt. Seit 2005 unterstützt „Ärzte der Welt“ diese Familien, um eine gesundheitliche Grundversorgung zu gewährleisten und ihnen Zugang zu Strukturen des öffentlichen Rechts zu bieten. Krankenpflege- und Vorsorgeeinrichtungen werden von unseren Teams, die die betroffenen Personen begleiten, über die Problematik aufgeklärt. Außerdem möchten wir den Anspruch der Kinder auf Schulbildung ebenso durchsetzen wie das Recht der Familien von gemeinnützigen Vereinen untergebracht zu werden, die mit der öffentlichen Hand zusammenarbeiten.

Am 1. November 2010 unterzeichnete Deutschland ein Rückübernahmeabkommen mit Rumänien. Demnach können Rumänen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, abgeschoben werden. Existiert ein solches Abkommen auch zwischen Frankreich und Rumänien?

Darüber ist mir nichts bekannt.

Im Juli 2011 schrieb die Tageszeitung "Liberation", dass nach der sogenannten Rede von Grenoble* des französischen Präsidenten zwar vergleichsweise nicht mehr Roma als im Vorjahr in ihre Herkunftsländer abgeschoben wurden, die Zahl der Zwangsräumungen von Roma-Camps jedoch zugenommen hat. Können Sie dies bestätigen? Wie hat sich die Situation der Roma in Marseille seit dem Sommer 2010 entwickelt?

Im Sommer dieses Jahres wurden erneute Rückführungen durchgeführt, die in den vorangegangenen Monaten unterbrochen wurden. Die Räumungen wurden jedoch in keiner Weise gestoppt. Nahezu alle von Roma besetzten Gebiete, die von „Ärzte der Welt“ betreut wurden, sind in den vergangenen sechs Monaten geräumt worden. Für manche Familien folgte eine Räumung auf die andere und sie mussten in wenigen Wochen mehrere Male ihren Wohnort wechseln. Gleichzeitig schlägt die öffentliche Hand weder eine Unterbringung noch Ersatzunterkünfte vor. Auf eine Räumung folgt also gezwungenermaßen ein Leben auf der Straße.  Die Wohnmöglichkeiten, die Familien nach jeder neuen Räumung finden, werden von Mal zu Mal schlechter: vom besetzten Haus über Hütten bis hin zu Zelten und Gehsteigen, auf weggeworfenen Matratzen oder unmittelbar auf dem Asphalt. Die Familien, vor allem Kinder und schwache Personen, werden von diesem Alltag zermürbt und sie fühlen sich verloren. Alle sozialen Errungenschaften, wie rechtliche Aufklärung, der Zugang zu medizinischer Pflege und die Schulbildung der Kinder wurden hoffnungslos zerstört.  Die Abschreckungsmaßnahmen werden immer härter und zielen auf eine Ausreise der Familien aus der Stadt ab. Der menschliche und soziale Preis für dieses Vorgehen spielt dabei keine Rolle.

In einer von ihnen veröffentlichen Stellungnahme vom 11. August 2011 in der Tageszeitung "Le Monde" kritisieren Sie an der Rede von Nicolas Sarkozy, dass sie einen Zusammenhang zwischen Roma mit französischen Papieren und den rumänischen Roma herstellt. Ist es denkbar, dass der Präsident diesen Zusammenhang zwischen einer Gruppe, die seit langer Zeit als Störfaktor angesehen wird, und der aktuell am stärksten abgelehnten migrantischen Bevölkerung bewusst hergestellt hat?

Meines Erachtens verdeutlicht die Rede von Grenoble die Unwissenheit des Präsidenten im Hinblick auf diese Problematik, egal ob es sich um französische Tsiganes* handelt oder eingewanderte Roma aus Rumänien. Er hat beide Gruppen ganz eindeutig als Sündenböcke für die Sicherheitsproblematik instrumentalisiert. Dabei war er nicht nur von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt, sondern auch von dem positiven Einfluss auf seine zukünftigen Wahlerfolge. Die Reaktionen auf diese Äußerungen haben ihm jedoch die Komplexität dieses Themas und der Bevölkerung den wahren Charakter der aktuellen Situation vor Augen geführt. Meines Wissens hat der Präsident übrigens seit dieser Rede das Thema nicht mehr aufgegriffen.

Im gleichen Artikel bezeichnen Sie die Politik in Marseille als „realitätsfern“, da sie die Tatsache ausblende, dass es sich bei den rumänischen Roma um EU-Bürger handelt, die sich legal auf französischem Staatsgebiet aufhalten. Dennoch wird es den Betroffenen beinahe unmöglich gemacht, eine Krankenversicherung abzuschließen, Straßenverkauf und Betteln werden unter Strafe gestellt und der Verkauf von Altmetall sieht sich weitreichenden Einschränkungen gegenübergestellt. Wie stehen sie zu der Annahme, dass mit dieser Politik die Anzahl der in Marseille lebenden Roma in den letzten 2 Jahren von 10.000 auf  2.000 Personen reduziert wurde?

Diese Politik ist in der Tat realitätsfern, da sie die Migrationsgründe dieser Bevölkerung außer Acht lässt. Es handelt sich dabei nicht um Nomadentum, sondern viel mehr um eine innergemeinschaftliche und vorhersehbare Migration. Es ist zwecklos mit Gewalt gegen diese Bevölkerungsbewegung anzugehen, da die Situation dadurch nur komplizierter und unangenehmer wird, sowohl für die MigrantInnen als auch für die Einreiseländer. Es wäre sinnvoller, diese Migration hier zu begleiten und die Herkunftsländer zu veranlassen, die Ausreisegründe und dadurch die Migration zu reduzieren, beispielsweise durch Anwendung der durch die EU auferlegten und finanzierten Anordnungen. Gleichzeitig befreit die Tatsache, dass der rumänische Staat diesen Auflagen nicht nachkommt, uns nicht von unseren Verpflichtungen gegenüber den hier lebenden Menschen. Und ja, diese Politik hat erhebliche Auswirkungen. Sie hat aus einer einfachen und begrenzten Migrationssituation ein humanitäres Desaster gemacht, das uns hier vor Augen geführt wird. Die Rückführungen, die systematischen Räumungen, die polizeilichen Übergriffe, die Verweigerung fundamentaler Rechte für diese Familien - wie der Zugang zu Gesundheitswesen, Unterkünften, Bildung und Arbeit - haben diese Menschen in eine Situation gebracht, die wir als „Über-Prekarisierung“ bezeichnen. Dieser Neologismus soll die zerstörerischen Auswirkungen einer solchen Politik beschreiben. Er umfasst einen endlosen Leidensweg und sinnlose Erniedrigungen, die unauslöschbare Spuren im Leben dieser Familien hinterlassen. Ob nun 10.000 oder 2.000 Personen unter diesen Bedingungen leben, ist dabei nicht ausschlaggebend. Nur ein einziges Kleinkind, das aufgrund dieser Politik auf einem Gehsteig übernachten muss, reicht aus, um sie zu bewerten - suchen Sie sich selbst ein Adjektiv für diese Bewertung aus, es wird jedoch alles andere als „respektvoll“ gegenüber diesem Kind lauten und auch nicht gegenüber grundlegenden humanistischen Werten die laut französischer Gesetzgebung die Grundlage unsere politischen Institutionen sein sollen.

Nach mehreren Räumungen von Camps, in denen über 150 Personen im Zentrum von Marseille lebten, wurde eine Pressekonferenz von mehreren Unterstützergruppen vor dem Rathaus einberufen. Die Forderung an die Stadt lautete, einen „runden Tisch“ zu diesem Thema einzuberufen. Was sind die konkreten Forderungen? Wie sieht die Reaktion der Stadt aus?

Ebenso wie viele andere Vereine in Marseille denken wir, dass die Lösung dieses Problems auch und vor allem in lokalen Initiativen zu finden ist. Es ist zu einfach, den Staat zu verteufeln und ihm die Schuld dafür zu geben, dass diese Menschen ihrer Rechte beraubt werden. Der Bürgermeister einer Kommune ist für die Sicherheit der dortigen Bewohner verantwortlich, es ist seine Pflicht, das Recht auf Unterkünfte für alle durchzusetzen und er muss sich auch um die Einhaltung der Schulpflicht kümmern. Er ist also nicht das Opfer einer Politik, die von anderen gewollt wurde, sondern selbst an der Verletzung der entsprechenden Gesetze und der daraus folgenden Konsequenzen beteiligt. Deshalb sind wir der Meinung, dass der Bürgermeister von Marseille Verantwortung übernehmen und eingreifen muss. Dabei ist nicht er allein für diese Situation verantwortlich, alle betroffenen Institutionen spielen eine Rolle und der von uns geforderte runde Tisch soll alle Beteiligten zusammenbringen. Auch der Präfekt muss anwesend sein, um die Auswirkungen der Politik des Staates, den er vertritt, auf Marseille ermessen zu können. Bis zum heutigen Zeitpunkt haben weder lokale noch nationale politische Vertreter auf diesen offenen Brief reagiert.

Während der Sommermonate wurden mehrere Roma von einer lokalen Aufnahmeeinrichtung zum Flughafen gebracht, um einen Flug nach Rumänien anzutreten. Es handelte sich dabei um eine "freiwillige" Rückkehr, die durch die Zahlung eines Geldbetrags gefördert wurde. In der Vergangenheit haben Menschen diese Möglichkeit genutzt, sind aber zu einem späteren Zeitraum wieder eingereist. Sind Ihrer Meinung nach bereits elektronische Daten angelegt worden, um diese Menschen bei künftigen Grenzkontrollen zu erkennen und aufzuhalten? Inwieweit ist dies möglich, da es sich um europäische Staatsbürger handelt?

Die Datenbank OSCAR ("Outil de Statistiques et de Contrôle de l'Aide au Retour" – Rückkehrhilfe: Statistik und Kontrolle) wird seit Oktober 2010 betrieben. Sie soll verhindern, dass Menschen durch Vortäuschung falscher Identitäten mehrfach von der Rückkehrhilfe profitieren.  Es scheint, dass Menschen, die ohne Zuschüsse zurückgeführt werden, nicht in die Datenbank aufgenommen werden. Während der Räumung des Roma-Camps am Triumphbogen der Stadt wurden aufgrund der Pressepräsenz ca. hundert Personen in einer Notunterkunft untergebracht, die unter die Administration der zentralen Stadtverwaltung fällt. Dort nahm das Office français de l'Immigration et de l'Intégration (französische Einwanderungs- und Intergrationsbehörde) Kontakt mit ihnen auf und konnte 70 Menschen von einer Rückkehr nach Rumänien überzeugen. Einige Personen haben in der Vergangenheit bereits eine Rückkehrhilfe erhalten. Ihnen wurde eine kostenlose Rückreise ohne Auszahlung der Hilfe angeboten. Diese Rückführungen sind eine Mischung aus Ermutigung und Zwang und stellen gemeinsam mit den Wohnraumräumungen die Grundlage der derzeitigen Regierungspolitik gegenüber Roma-Familien dar. Durch Erschwerung des Lebens und Erleichterung der Rückkehr soll dieses Vorgehen die Familien davon überzeugen, dass sich ein Aufenthalt in Frankreich nicht lohnt. Die in Europa geltende Reise- und Niederlassungsfreiheit bietet den Personen, die zurückgeführt wurden die Möglichkeit zu einer erneuten Einreise, eine Möglichkeit, die von den Meisten genutzt wird. Dies verdeutlicht die Wirkungslosigkeit dieser Maßnahmen.

Auf internationaler Ebene ist Frankreich für die Diskriminierung der Roma-Minderheit kritisiert worden. Wie reagierten die Medien und die Regierung in Frankreich auf diese Kritik?

Die Sanktionsdrohung der europäischen Menschenrechtsvertreterin vom September 2010 blieb bislang folgenlos, wenn man davon absieht, dass die französische Regierung vorsichtiger im Umgang mit diesem Thema und sparsamer mit öffentlichen Diskriminierungen oder übertrieben brutalen Vorgehensweisen geworden ist. Die Motivation der Politik hat sich jedoch nicht verändert und betrachtet die „Roma-Problematik“ weiterhin und primär als eine Störung der öffentlichen Ordnung. Wir wurden zur Mitarbeit an einem Pilotprojekt eingeladen, um eine Studie über die Diskriminierung der Roma auszuarbeiten. Diese von der Regierung in Auftrag gegebene Studie ist die einzige Reaktion auf die Kritik, die von der Presse, internationalen Einrichtungen und Menschrechtsorganisationen geäußert wurde. Die Ergebnisse dieser Erhebung sind uns unbekannt und ich zweifle daran, dass sie einen Einfluss auf die tatsächliche Politik haben werden. Von einem Staat, der sich als Verfechter der Menschenrechte versteht, hätte man durchaus mehr erwarten können.

Die staatliche Repression gegen diese Minderheit stellt ein Problem dar. Jedoch wurden auch Vorfälle der Diskriminierung seitens der Einwohner von Marseille gegenüber rumänischen Roma bekannt. Welche Möglichkeiten sehen sie, neben der juristischen und humanitären Hilfe, die sie mit ihrer Organisation leisten, auf dieses Problem zu reagieren? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen dieser Diskriminierung? Kann man von Antiziganismus sprechen?

Ich nenne das Rassismus. Denn es handelt sich um eine Reihe an Vorurteilen, die verwendet werden, um Menschen apriorisch zu verurteilen, wobei die Urteile sehr negativ ausfallen. In diesem Fall sind die rumänischen Roma betroffen: „Hühnerdiebe, Kinderräuber, Verbrecher, Organhändler, Mitglieder mafiöser Strukturen“ und so weiter... Das Problem ist, dass die natürliche Neigung, dem Fremden, dem Neuankömmling zu misstrauen, durch offizielle Statements, wie der Rede von Grenoble, verstärkt und legitimiert wird. Die Folge ist, dass der „Anti-Roma“-Rassismus somit gerechtfertigt und enthemmt wird. Das Mitgefühl, dass jeden beim Anblick einer bettelnden Mutter mit einem Kind auf dem Arm oder eines Säuglings, der auf einem Gehweg übernachtet, ergreifen müsste, bleibt aus. Einfühlungsvermögen und Mitleid werden ausgeblendet, satt dessen tritt ein beleidigendes Verhalten an den Tag. Dieser Rassismus oder „Antiziganismus“, wie Sie ihn nennen, basiert auf Unwissenheit und falschen Vorstellungen sowie der in Frankreich erwiesenermaßen vorherrschenden Ablehnung gegenüber dem sogenannten fahrenden Volk, den „gens du voyage“. Dabei eint diese „gens du voyage“, die nichts anderes als umherziehende Franzosen sind, nichts mit den sesshaften und eingereisten rumänischen Roma-Familien, bis auf eine weit zurückliegende kulturelle Verwandtschaft. Die Öffentlichkeit hat fälschlicherweise eine Verbindung hergestellt und bringt beiden Gruppen dasselbe ablehnende Gefühl entgegen. Offizielle Aussagen und die Medien wiederholen, verstärken und rechtfertigen diese Verwechslung zusätzlich. Seit Jahren versuchen wir wie einige Andere daran zu erinnern, dass Rassismus ein soziales Gefüge vergiftet und ein Verbrechen ist. Für die Roma blockiert er im Vorfeld das Verständnis für ihre Migrationsgründe sowie die Entwicklung angemessener und notwendiger Aufnahmebedingungen.

Philippe Rodier ist Mitarbeiter der “Médecins du monde - Ärzte der Welt“ und in der Unterstützungsarbeit für Roma in Marseille tätig. Das Gespräch führte Stefanie Blasius.

*In einer Rede zur Einsetzung des neuen Präfekten des Departements Isère führte Sarkozy am 30. Juli 2010 in Grenoble die Hauptzüge des neuen Kurses aus, den zwei Tage zuvor die ganze Regierung gebilligt hatte: Demnach sollten sämtliche Siedlungen fahrender Roma eingeebnet und straffällig gewordenen Franzosen mit Migrationshintergrund die Staatsbürgerschaft entzogen werden

*Der Begriff erscheint so im Originaltext. Der Begriff Tsiganes wird im Französischen synonym für Roma verwendet.

Das Gespräch führte Stefanie Blasius

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