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Antiziganismus in Europa

Die Folgen des sozial und rechtlich miserablen Status der Roma in Europa dokumentiert und analysiert die ZAG seit ihrem Beginn 1992. Ausdruck findet dieser nicht zuletzt in den schlechten Lebensverhältnissen, in denen die meisten Roma nicht nur leben, sondern zumeist schlichtweg gefangen sind. Als Ereignis zeigt sich dies in den hochgezogenen Mauern – 1990 in Sfintu Gheorghe (Rumänien), 1999 in Usti nad Labem (Tschechien) und 2009 in Ostrovany (Slowakei). Die schlechten Umstände unter denen Roma in den Mitgliedstaaten Europas leben, werden vom politischen Willen der gesellschaftlichen Mehrheiten meist völlig entkoppelt wahrgenommen und diskutiert. Allein die Roma selbst hätten es letztlich aufgrund ihrer sozialen Verhältnisse, die nach wie vor selten als solche überhaupt nur Anerkennung finden, zu verantworten, wenn sie verfolgt oder abgeschoben werden, sie keine Jobs, keine Schulen oder keinen legalen Ort zum Leben fänden – so nach wie vor der Tenor in weiten Teilen der Gesellschaften Europas. Sie sollen zu eist einfach nur verschwinden – hinter Mauern, wie in den oben genannten Ländern Osteuropas oder mit 250 € Taschengeld wie 2009 in Berlin. Damit ist »das Problem«, als welches
»die Roma« jenseits von BalkanBeatBox-Romantik fast ausschließlich identifiziert werden, jedoch nicht aus der Welt. Die Verhältnisse, in denen Roma gegenwärtig leben und die ihnen vorgehalten werden, liegen nicht in ihren Händen, sie haben sie nicht zu verantworten – sie werden in nahezu allen Möglichkeiten, ihre Lebensumstände selbst mit zu bestimmen, beschnitten – Wahl des Wohnorts, der Schule, des Jobs, der Art und Weise zusammen zu leben. Die Assoziationen, die Roma im kollektiven Bewusstsein der Mehrheit immer wieder zu Zigeunern abwerten, nähren sich dabei aus Ereignissen, die Roma allgemein gern zugeschrieben werden. Zugleich zeigen diese nicht vielmehr als die wenigen Möglichkeiten auf, die Roma offen bleiben: als »aggressive« Bettler, »aggressive« Blaskapelle, »Nervwischer«, Einbrecher, Trickbetrüger, etc.. Kriminalistisch nach wie vor gern besonders hervorgehoben, statistisch hingegen selten hervorstechend, werden ihnen diese Formen der Existenzsicherung empört, lautstark und medienwirksam nicht nur um die Ohren geschlagen, sondern nach wie vor genetisch zugeschrieben. Politisch drückt sich dieser sich gesamtgesellschaftlich generierende Zirkelschluss als permanenter Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus. Bestimmt sind in diesem sowohl Inhalt als auch Kriterien durch die Roma in Funktion von »Zigeunern« existenziell bedroht werden, gleichberechtigt ein menschenwürdiges Leben zu führen oder – wie im NS geschehen – ihnen überhaupt zu leben verwehrt wird.

Die ZAG konzentriert sich mit dem nun vorliegenden Heft 59 zum zweiten mal mit einem Schwerpunkt auf die politische, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung von Roma – beschrieben mit dem Begriff Antiziganismus. Mit dem vergriffenen Heft 43 behandelte die ZAG 2003 Antiziganismus erstmalig als Schwerpunktthema. Wir hätten diese Ausgabe einfach wieder abdrucken können: Formen, Inhalte und Ausmaß von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung von Roma haben sich seit 2003 nicht geändert, ein Anschreiben gegen den hartnäckigen irrationalen Hass gegen Roma erscheint heute in gleicher Form notwendig wie vor acht Jahren.

Was soll sich auch geändert haben, könnten wir müde fragen? Geändert hat sich vor allem die Situation der Roma selbst. In Ländern Ost- Europas, haben sich die Lebensumstände der dort seit Jahrhunderten verwurzelten Roma nach 1990 sukzessive verschlechtert – genannt sei hier vor allem Rumänien, Bulgarien und, mit momentan aktuelleren Schlagzeilen in den Medien vertreten, Ungarn und Tschechien. Ausgrenzung und gelebte Vorurteile gegenüber Roma sind in diesen Ländern nicht nur ungebrochen, wie auch in Deutschland, sie äußern sich immer unverhohlener und werden rechtlich kaum verfolgt, also politisch gestützt. Zudem sind die meisten Roma Osteuropas Bürger der Europäischen Union.

Offene Gewalt gegen Roma erscheint dabei in den letzten Jahren eher als ein Problem osteuropäischer Staaten. Doch ist Antiziganismus offensichtlich eine Erscheinung, die in Ost und West in der Mitte vieler europäischen Gesellschaften reproduziert wird. Neben die gewalttätigen und die subtileren alltäglichen Formen des Antiziganismus treten offene staatliche Diskriminierungen der Roma. In Frankreich, Großbritannien und Italien sind Roma administrativ zu einem Problem gemacht worden; dort wurden Massenabschiebungen – bemerkenswerter Weise von einem EU-Staat zu einem anderen EU-Staat – und massenweise erkennungsdienstliche Behandlung von Roma angeordnet (wir berichteten dazu im Heft 57.).

Die Europäische Union ist dabei jedoch nicht untätig. 2005 verpflichteten sich zwölf Mitgliedsstaaten zur »Roma-Dekade«, in der die Situation der Roma verbessert werden soll. Darüber hinaus gibt es verschieden Ansätze und Programme der EU zum Minderheitenschutz. Aber auch diese Beschlüsse sind nicht unproblematisch. Auch bei der Vorstellung des EU-Rahmens in Berlin im April 2011 wurden wieder der angebliche »Nomadismus« und die »Lebensweise« als Ursachen genannt und damit das Verhalten der Roma für ihre oft desolate Lage verantwortlich gemacht. Ähnliche Pauschalzuschreibungen sind wiederholt auch im Deutschen Bundestag zu hören, wenn etwa »den« Roma vorgehalten wird: »Ihr [sic!] dürft eure Frauen nicht verprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheiraten.« (Erika Steinbach).

Sogar in den als Schutzmaßnahmen gedachten Beschlüssen werden Stereotype reproduziert. Ähnlich wie beim Antiislamismus werden Frauenrechte strategisch eingesetzt, um Roma abzuwerten.

Verbote und administrative Maßnahmen auf Basis solcher Stereotype bestätigen dann wieder die Stereotype selbst. Die Ausgrenzung von Roma und Sinti muss gebrochen werden, genauso wie das damit einhergehende Bild von »den Zigeunern«. Wir wollen mit diesem Heft dazu beitragen.

Eure ZAG

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