Anna Lucia Jocham
Im Oktober 2005 schreibt der Fürther Kriminalhauptkommissar Peter Lehrieder im Fachjournal »Der Kriminalist«, die Sinti würden sich wie die »Made im Speck« des bundesrepublikanischen Sozialsystems fühlen, sie würden mit dem Mercedes vor dem Sozialamt vorfahren, kaum je geregelter Arbeit nachgehen und sich konspirativ abschotten. »Diebstahl, Betrug und Sozialschmarotzerei« würden sie ohne schlechtes Gewissen mit dem Umstand ihrer Verfolgung im »Dritten Reich«
legitimieren (vgl. Maegerle 2007, S. 118).
Dies ist nur eines der unzähligen Beispiele der heutigen Diskriminierung der Sinti und Roma in Deutschland. Dass solche Meinungen keine Einzelfälle sind, zeigt sich auch daran, dass sich niemand aus der Leserschaft des Fachjournals davon distanzierte. Und auch das für die erfolgte Anzeige zuständige Oberlandesgericht Brandburg vermochte in diesen Äußerungen keine Volksverhetzung zu erkennen.
Doch dieses Beispiel verdeutlicht nicht nur die alltägliche und institutionelle Diskriminierung der Sinti und Roma, sondern es illustriert auch einen speziellen Aspekt des Antiziganismus: dessen Stigmatisierungscharakter.
Antiziganistische Stigmatisierung als Zuschreibungsprozess
Diskriminierung und Stigmatisierung lassen sich meist nicht sauber voneinander trennen. Trotzdem lassen sich elementare Unterschiede konstatieren. Soziale Diskriminierung meint die Benachteiligung von Menschen aufgrund gruppenspezifischer Merkmale wie Geschlecht, Alter, Religion, sexuelle Orientierung, Ethnie, etc. (vgl. Schlotböller 2008, S. 23f.). Wichtig ist, dass individuelle Vorurteile nicht zwangsläufig in einem ursächlichen Verhältnis zur Diskriminierung stehen. Beispielsweise ist denkbar, dass jemand keine persönlichen Vorurteile hat, jedoch Sinti und Roma trotzdem diskriminiert, weil die soziale Situation dies bedingt (z.B. wenn alle anderen aus der Clique die Sinti und Roma diskriminieren). Andererseits kann jemand auch Vorurteile gegenüber Sinti und Roma haben, sie aber dennoch wie jede andere Person behandeln (z.B. aus ökonomischen Gründen, wenn jemand auf jede zahlende Person angewiesen ist).
Stigmatisierungsprozesse verweisen hingegen auf ein reziprokes Verhältnis zwischen Stigmatisierung und Vorurteilen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zum einen das stigmatisierte Individuum diskreditieren, zum anderen dem Individuum zugleich erneut negative Eigenschaften zuschreiben (vgl. Goffman 2002), die sich auf vermeintlich gruppenspezifische Merkmale (Geschlecht, Ethnie, etc.) beziehen. Die rassistische Stigmatisierung dient der Visualisierung rassistischer Ideologien und der Kenntlichmachung rassistisch diskriminierter Anderer. Dabei wird versucht die zugeschriebene »Minderwertigkeit« mit natürlichen Eigenschaften kenntlich zu machen (vgl. Hund 2007, S. 99ff.). Durch die Diskreditierung und die erneute diskreditierende Zuschreibung erfolgt eine Reproduktion der Vorurteile. Diskriminierung und Stigmatisierung treffen also in Situationen zusammen, wenn Personen diskriminiert werden und dafür Vorurteile herangezogen werden (stigmatisierende Diskriminierung), also wenn beispielsweise jemand keine Sinti oder Roma für einen Job einstellen würde mit der Begründung, dass diese doch faul seien. Neben solch direkter, stigmatisierender Diskriminierung lässt sich (antiziganistische) Stigmatisierung vor allem auch auf institutioneller Ebene beobachten. Besonders die Medien tragen in erheblichem Maße zur Stigmatisierung der Sinti und Roma bei. Antiziganistische Stigmatisierung lässt sich folglich als ein diskreditierender Zuschreibungsprozess begreifen, in welchem zugleich antiziganistische Vorurteile reproduziert werden.
Das konstruierte Stigma der Sinti und Roma
Die Stigmatisierung von Sinti und Roma speist sich primär aus über Jahrhunderte tradierten Vorurteilen. Hierbei wird ein gesellschaftlich konstruiertes »Zigeunerbild« auf die Sinti und Roma übertragen, wobei deren Lebenssituationen freilich nicht mit diesem Konstrukt kongruent sind. Es lassen sich grob zwei Ausprägungen des konstruierten »Zigeunerbildes« unterscheiden: das kriminalisierende und das romantisierende »Zigeunerbild«. Das kriminalisierende »Zigeunerbild« zeichnet stehlende, bettelnde, kindermisshandelnde und kinderklauende, faule und betrügerische »Zigeuner«. Damit geht auch häufig das Bild der schmuddeligen, dreckigen und Krankheiten übertragenden »Zigeuner« einher. Das romantisierende »Zigeunerbild« vermittelt hingegen eine Lagerfeuerromantik. Die »Zigeuner« werden dabei als freiheitsliebend, herumreisend, temperamentvoll, musikalisch und abergläubisch dargestellt.
Diese diskreditierenden jahrhundertealten Vorurteile werden dabei häufig mit vermeintlichen Stigmasymbolen verknüpft, die der Kenntlichmachung der Sinti und Roma als »Zigeuner« dienen sollen. So sollen die Sinti und Roma an ihrem Wohnwagen, dem dicken Mercedes, den unzähligen Kindern, dem Tragen von Gold, etc. erkennbar sein.
Funktionen der antiziganistischen Stigmatisierung
Auf der individuellen Ebene können zum einen Stigma-Konstruktionen als Projektionsflächen dienen. Indem belastende Ansprüche durch die Orientierung an übernommenen Vorurteilen auf andere projiziert werden, fungiert Stigmatisierung als Entlastung oder als Abreaktion z.B. von Aggressionen. Zum anderen dienen Stigmatisierungen aber auch als Identitätsstrategien, um ein gefährdetes psychisches Gleichgewicht zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Dies vollzieht sich durch die ausdrückliche Abgrenzung zur Andersartigkeit, der Betonung der eigenen »Normalität« und der Ablehnung von vermeintlicher Abweichung. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene fungieren Stigmata als Regulatoren des sozialen Verkehrs zwischen Majoritäten und Minoritäten und sie bestimmen den Zugang zu knappen Gütern wie Status, Berufschancen, etc. Indem Stigmata eine Fläche bieten, um die aus Frustrationen herrührenden Aggressionen auf die Schwächeren abzuleiten, die ohnehin schon kaum Macht besitzen, dienen sie der Systemstabilisierung. Stigmatisierungsprozesse schaffen und zementieren die dafür notwendigen (diskreditierenden) Projektionsflächen und dienen damit der Herrschaftssicherung (vgl. Hohmeier 1975, S. 10ff.). Antiziganistische Stigmatisierung konstruiert und reproduziert nun das »Zigeunerbild« als Projektionsfläche und verknüpft es mit den Sinti und Roma. So dienen diese als Sündenböcke.
Folgen der antiziganistischen Stigmatisierung für die Betroffenen
Durch antiziganistische Stigmatisierung werden die auf dem »Zigeunerbild« basierenden Vorurteile auf die Sinti und Roma übertragen. Sowohl das kriminalisierende als auch das romantisierende »Zigeunerbild« hat – bei Übertragung auf die Sinti und Roma – eine diskreditierende Wirkung. Das kriminalisierende »Zigeunerbild« wertet die Sinti und Roma als »nicht-vertrauenswürdige Personen« ab, während das romantisierende »Zigeunerbild« sie in erster Linie als »primitive oder naive Personen« diskreditiert.
Die Anerkennung als Person und als gesellschaftliches Mitglied ist für die Betroffenen das zentrale Problem der Diskreditierung. Dies hat auf verschiedenen Ebenen Auswirkungen: auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilhabe, auf der Ebene der Interaktion und auf der Ebene der Veränderung der Person in ihrer Identität (vgl. Hohmeier 1975, S. 12f.). Auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilhabe führt Stigmatisierung häufig zum formellen oder informellen Verlust von bisher ausgeübten Rollen bzw. macht sie von vornherein unmöglich. Dies erhöht die Gefahr der Benachteiligung, Ausgrenzung und Isolation (vgl. ebd.: 13). Solche Folgen antiziganistischer Stigmatisierung zeigen sich beispielsweise an der Bildungssituation der Sinti und Roma. Im Rahmen einer Untersuchung des Open Society Institute äußerten Lehrer in Interviews, dass bei Kindern von Sinti und Roma eine »charakteristische Unfähigkeit zur Konzentration« beobachtbar sei, sie nicht die Geduld hätten, eine Unterrichtsstunde lang zu sitzen, nicht für die Schule geschaffen seien und besser in einer Förderschule etwas Praktisches lernen sollten (vgl. Open Society Institute 2002, S. 103). Diese antiziganistische Stigmatisierung greift auf das Bild des »primitiven Zigeuners« zurück und diskreditiert die Sinti und Roma mit der Folge, dass deren Kindern in der Schule teilweise mit Vorurteilen begegnet wird. Somit können aus der Stigmatisierung Formen direkter Diskriminierung resultieren. Daher verwundert es auch nicht, dass Kinder von Sinti und Roma auffallend häufig auf Förder- und Hauptschulen verwiesen werden1.
Die Folgen antiziganistischer Stigmatisierung können auf dieser Ebene allerdings noch viel gravierender sein als sie heute in Deutschland auftreten. Während des deutschen Faschismus wurden die Sinti und Roma als Feinde und als Bedrohung für das »deutsche Volk« stigmatisiert, was letztlich zur Ermordung von 500.000 Sinti und Roma beitrug. Auf der Ebene der Interaktion besteht das Problem, dass die Stigmatisierten in Interaktion mit Nicht-Stigmatisierten möglicherweise nicht als gleichwertige Interaktionspartner anerkannt werden. Das macht die Interaktionen schwierig und kann sie in ihrer Fortsetzung bedrohen (vgl. Hohmeier 1975, S.14). Dabei muss die Interaktion selbst gar keine direkte Stigmatisierung darstellen. Sowohl aktuelle als auch vergangene Stigmatisierungen können in jeder Interaktion zum Problem werden, wobei dies freilich immer noch vom Gegenüber abhängig ist.
Für viele Sinti und Roma bedeutet dies, in bestimmten Situationen eventuell abwägen zu müssen, welche Nachteile es bringen kann, wenn sie ihre ethnische Zugehörigkeit offen legen. Aus Angst vor Diskriminierung wird teilweise versucht, den Stigmatisierten nicht zuordbar zu sein. Dies erfolgt auf verschiedene Weise, z.B. gibt es Personen, die ihren Nachnamen ändern lassen, weil sie an diesem leicht als Sinti zu erkennen sind und sie damit zu viele schlechte Erfahrungen gemacht haben (vgl. Jocham 2010, S. 118f.).2 Auf der Ebene der Identitätsveränderung lassen sich Prozesse beobachten, in welchen die Identität des stigmatisierten Individuums von seiner Umwelt umdefiniert wird. Dabei wird sein gesamtes Verhalten stets auf das Stigma bezogen (vgl. Hohmeier 1975, S. 13) und bisherige Ereignisse im Leben des Stigmatisierten werden retrospektiv interpretiert und auf das Stigma angepasst. Das wäre z.B. der Fall, wenn ein Sinto seit längerem keine Arbeitsstelle hätte und dies dann darauf bezogen werden würde, dass er Sinto sei und die Sinti und Roma ja faul seien. Permanente Stigmatisierung kann dann eine Identitätsveränderung zur Folge haben, bei welcher die Betroffenen die Stigmatisierung in ihr Selbstbild übernehmen und auf sich selbst anwenden.
Die Folgen der Stigmatisierung auf der Ebene der Interaktion und der Ebene der Identitätsveränderung hängen in ihrer Ausprägung freilich auch davon ab, wie sehr die Betroffenen die Stigmatisierung wahrnehmen.
Gesellschaftliche Folgen der antiziganistischen Stigmatisierung
Antiziganistische Stigmatisierung mit ihrem Diskreditierungscharakter und reproduzierenden Zuschreibungscharakter liefert einen Ausgangspunkt für direkte Diskriminierung und zementiert antiziganistische Vorurteile. Die soziale Situation der Sinti und Roma muss damit als Folge antiziganistischer Stigmatisierung begriffen werden, da hierbei den Sinti und Roma diskreditierende Merkmale der »Zigeunerbilder« zugeschrieben werden. Gegenüber der Stigmatisierung sind die Betroffenen ziemlich machtlos. Vor allem der medialen Definitionsmacht kann kaum etwas entgegengesetzt werden. Die Stigmatisierungsprozesse tragen somit erheblich dazu bei, dass antiziganistische Vorurteile nicht aufgebrochen, sondern weiterhin tradiert werden.
Anmerkungen
1. Die Argumentation antiziganistischer Personen erfolgt in umgekehrter Logik. Diese würden natürlich behaupten, Schulbildung spiele in der Kultur der Sinti und Roma eine untergeordnete Rolle (»Primitivität«) und deshalb würden es deren Kinder nur auf die Haupt- und Förderschule schaffen.
2. Es gibt einige Nachnamen, die unter Sinti weit verbreitet sind und die bei der örtlichen Bevölkerung zum Teil auch als »typische« Sinti-Nachnamen bekannt sind.
Literatur
Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002
Hohmeier, Jürgen: Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozess. IN: Brusten/ Hohmeier (Hrsg.): Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen. Luchterhand Verlag, S.5-24, Neuwied, 1975
Hund, Wulf D.: Rassismus. transcript Verlag, Bielefeld, 2007
Jocham, Anna Lucia: Antiziganismus. Exklusionsrisiken von Sinti und Roma durch Stigmatisierung. Hartung-Gorre Verlag, Konstanz, 2010
Maegerle, Anton: Die braune Vergangenheit des BKA. Das Bundeskriminalamt arbeitet seine Geschichte auf. IN: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. 46. Jg/Heft 184, S.107-118, 2007
Open Society Institute – EU Accession Monitoring Program: Monitoring des Minderheitenschutzes in der Europäischen Union: Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland. 2002
Schlotböller, Dirk: Diskriminierung – eine kritische Analyse der Arten, Ursachen und Handlungsansätze. Pro BUSINESS, Berlin, 2008