Ein Freund Oury Jallohs sagte einmal: »Oury ist dreimal gestorben – im Bürgerkrieg in Sierra Leone starb seine Vergangenheit, im Asylbewerberheim in Roßlau bei Dessau starb seine Zukunft, und in der Zelle kam er ums Leben.« Diese Worte verdeutlichen nicht nur die brutale und traurige Realität, wie sie Oury Jalloh erfuhr. Sie stehen gleichermaßen symbolisch für eine Realität, wie sie unzählige Menschen erleben.
Oury Jalloh wurde 1968 in Sierra Leone geboren – ein Land, das nicht nur für seine Diamantenvorkommen bekannt ist, sondern auch für die blutigen Kämpfe um sie. Die 1990er Jahre waren geprägt vom Bürgerkrieg, dem auch Oury Jalloh zu entkommen versuchte, weshalb er nach Guinea flüchtete, wo sich seine Eltern bereits befanden. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft für die ganze Familie begab sich Oury Jalloh dann auf den langen Weg nach Europa, um etwas Geld zu verdienen, es sparen und zu seiner Familie zurückzukehren. In Deutschland stellte er einen Antrag auf Asyl und lernte schnell das rassistische Gesicht Deutschlands kennen. Das beschränkt sich nicht nur auf den individuellen Rassismus der weißen, deutschen Mehrheitsgesellschaft, die mit Blicken, Worten und Taten rassistische Gewalt alltäglich reproduziert. Es beinhaltet auch den strukturellen Rassismus, wie er in Institutionen, Behörden und Ämtern verankert ist und durch die vielen ineinander greifenden Mechanismen seine menschenverachtende Gewalt hervorbringt. Sei es die Unterbringung in menschenunwürdigen Asylbewerberheimen, weit abgelegen, in purer Isolation, jenseits jeglicher gesellschaftlichen Teilhabe. Sei es die Residenzpflicht – die einzig in Deutschland existierende Auflage für Asylbewerber_innen, den zugewiesenen Landkreis – die Einöde – nicht verlassen zu dürfen. Sei es die Ausländerbehörde, die nicht nur willkürlich zehn Euro für die »Erlaubnis« verlangt, den Landkreis verlassen zu dürfen, sondern auch willkürlich über die »Erlaubnis« selbst entscheidet. Sei es das Arbeits- und Ausbildungsverbot, seien es die entmündigenden Nahrungsmittelgutscheine oder das wenige Bargeld in absurder Höhe von gerade mal rund vierzig Euro im Monat, welches die zuständige Behörde ebenfalls nach Belieben streichen kann. Am Ende aber war es die Institution Polizei, die Oury Jallohs Leben ein Ende setzte.
Am Morgen des 7. Januar 2005 griffen Dessauer Polizeibeamten Oury Jalloh auf und nahmen ihn mit aufs Polizeirevier – angeblich um seine Identität festzustellen. Dort wurde er durchsucht und von einem Arzt für gewahrsamstauglich erklärt. Obwohl Oury Jalloh stark betrunken war, wurde er in eine Gewahrsamszelle verbracht und an Händen und Füßen an Metallhalterungen gekettet. Stunden später war er tot – er verbrannte qualvoll.
Wie aber kann ein Mensch, an allen vier Extremitäten gefesselt, auf einer feuerfesten Matratze liegend, in einer vollständig gefliesten Zelle verbrennen? Die deutschen Behörden schienen an dieser Frage nicht sonderlich interessiert: So trafen die Dessauer Behörden zügig alle Vorkehrungen, um den verbrannten Leichnam nach Guinea zu überführen – ohne Verwandte und Freund_innen davon in Kenntnis zu setzen. Diese aber forderten Aufklärung. Ein möglicher Prozess wurde dann lange Zeit verschleppt: Auf die Anklage gab es lange keine Reaktion, dann wurden unnötige weitere Ermittlungen angefordert, später die Nebenkläger nicht anerkannt – man wollte offenbar Gras über die Sache wachsen lassen. Einzig der unentwegten Forderung der Dessauer Black Community nach einer lückenlosen Untersuchung der Todesumstände ist es zu verdanken, dass es überhaupt zu einem Prozess gegen zwei diensthabende Polizeibeamte kam: gegen Andreas Schubert, den Dienstgruppenleiter, und Hans-Ulrich März, einer der Polizeibeamten, der Oury Jalloh ins Revier verbrachte, ihn durchsuchte und in die Gewahrsamszelle brachte. Der Prozess vor dem Landgericht Dessau-Roßlau zog sich dann über eineinhalb Jahre hin und war nicht nur von ungeklärten Widersprüchen, Erinnerungslücken, fehlenden Unterlagen und abhanden gekommenen Beweisstücken gekennzeichnet. Er bestand zum größten Teil auch nur aus Befragungen von Polizeibeamt_innen, die sich gegenseitig deckten. Auch ging es vorrangig nur um die wenigen Minuten nachdem der Rauchmelder Alarm schlug – Aspekte jenseits dieser kurzen Zeitspanne wurden vom Gericht als irrelevant erachtet. Zahllose Fragen blieben unbeantwortet. Woher kam das Feuerzeug, welches erst Tage später und urplötzlich in dem verkohlten Brandschutt aus der Zelle gefunden wurde, den man zur Untersuchung gegeben hatte? Wie gelangte ein Feuerzeug überhaupt in die Zelle, obwohl Oury Jalloh zuvor durchsucht worden war? Warum befand sich in der Zelle Oury Jallohs eine Flüssigkeit und vor allem was für eine. Sie wurde nur kurze Zeit vor Ausbruch des Feuers zwar wahrgenommen, aber niemanden der Polizeibeamt_innen zu einer genaueren Untersuchung veranlasste? Wer war kurz vor Ausbruch des Feuers bei Oury Jalloh in der Zelle, und warum? Über die Wechselsprechanlage waren die Personen zu hören, im Gewahrsamsbuch war aber kein Eintrag darüber zu finden. Warum wurde Oury Jalloh, nach längst erfolgter Feststellung der Identität nicht frei gelassen? Wurde er vor und während der Verbringung in das Polizeirevier überhaupt nach seiner Identität gefragt? Oder wurde er nur mitgenommen, weil er Schwarz war? Die Liste der ungeklärten Fragen ist endlos lang. Auch ist der Ursprung all jener Verletzungen ungeklärt, die Oury Jalloh erlitt. Und wieso wurde der Nasenbeinbruch und die Verletzungen des Innenohres erst durch jene zweite Obduktion entdeckt, die die Familie und Freund_innen Oury Jallohs veranlasst hatten – unabhängig von den deutschen Behörden, denen sie offenbar zurecht misstrauten?
All diese Fragen unbeantwortet lassend, sprach das Gericht die Angeklagten im Dezember 2008 frei. Kritisierte der Richter in seiner mündlichen Urteilsbegründung noch selbst, dass die Polizeibeamt_ innen die Aufklärung der Todesumstände verunmöglichten, indem sie schlichtweg gelogen hatten, findet sich davon in der schriftlichen Urteilsbegründung kein Deut mehr. Vielmehr wird darin ausgeführt, dass der Tod innerhalb von zwei Minuten möglich gewesen sei, weshalb der Angeklagte Schubert nichts hätte tun können. Damit fällt die Urteilsbegründung hinter alles zurück, was in dem langen Verfahren an Details aber auch an Fragen herausgefunden wurde. Doch davon ließen sich die Familie und Freund_innen Oury Jallohs, genauso wie die Initiative zu seinem Gedenken und andere Organisationen nicht beirren. Sie protestierten weiter, verlangten Aufklärung und konnten die Nebenklage überzeugen, Revision einzulegen und zu begründen – mit Erfolg.
Schon während des ersten Prozesses hatten die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh und andere Organisationen das Verfahren als einzige Farce angeprangert: die Vertuschung, Klüngelei, Lügen, Falschaussagen und das Mauern der Polizist_innen gepaart mit einem fehlenden Ermittlungsinteresse seitens Staatsanwalt und Gericht an dem, was in Zelle Nummer fünf an jenem 7. Januar 2005 passiert war. Zusätzlich bestätigt wurden sie dann durch das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH), welches exakt am fünften Todestag von Oury Jalloh das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau aufhob und entschied, dass der Prozess neu aufgerollt werden müsse. Auch der BGH sah die Beweise als nicht hinreichend gewürdigt an. Wie hätte Oury Jalloh eine Matratze selbst anzünden können? Hätte ein derartiger Versuch nicht Verbrennungen ausgelöst, die mit Schmerzesschreien einhergegangen wären? Welcher Zeitpunkt stellt in den Untersuchungen den Brandbeginn genau dar, womit sich erneut die Frage nach der Möglichkeit einer Rettung stellt? All diese Fragen dokumentieren, dass das Landgericht Dessau-Roßlau eine ernst gemeinte Aufklärung der Vorfälle schlichtweg übergangen hat.
Obwohl man die Zulassung der Revision als Lichtblick werten könnte, zeigen sich die Schwachstellen des deutschen Rechtssystems recht schnell. Da es sich um ein Revisionsverfahren handelt, bleibt die Anklageschrift dieselbe. Das heißt, gegen den Dienstgruppenleiter Schubert lautet die Anklage erneut »Körperverletzung mit Todesfolge«. Ausschließlich mit dieser unveränderten Anklageschrift zu arbeiten, trägt aber nicht jenen Fakten Rechnung, die zusätzliche Ermittlungen in Richtung einer Anklage wegen Mordes begründen würden. Auch gerät der den Handlungen zugrunde liegende Rassismus nicht in den Fokus, wie er sich jedoch in den unterschiedlichen Momenten massiv offenbart. Wie sonst ließe es sich erklären, dass ein Mann zum Polizeirevier verbracht wird, der beim Eintreffen des Streifenwagens einzig gegen eine Hauswand gelehnt ist und sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite jener Frauen befindet, die die Polizei erst verständigt hatten? Und was impliziert das verachtende Menschenbild, welches sich in dem Telefonat zwischen dem Dienstgruppenleiter Schubert und jenem Arzt abzeichnete, der Oury Jalloh Blut entnahm und dessen Gewahrsamstauglichkeit bescheinigte? Schubert forderte die Blutabnahme telefonisch mit den Worten an: »Piekste mal ’nen Schwarzafrikaner«. Als der Arzt entgegnete: »Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen«, empfahl Schubert doch eine »Spezialkanüle« mitzubringen, was der Arzt bestätigte.
Angesichts dieser Umstände wird fraglich, ob die von Familien, Freund_innen und Aktivist_innen so lang schon geforderte Aufklärung und Gerechtigkeit im Fall Oury Jalloh erreicht werden kann. Es bleibt abzuwarten, wie das Landgericht Magdeburg, vor dem das Revisionsverfahren seit Januar dieses Jahres stattfindet, vorgehen wird. Wird es jene Indizien ernst nehmen, die den Rassismus belegen, die zu Oury Jallohs Tod geführt haben? Wird es jene Hinweise verfolgen, die die Beteiligung von Polizeibeamt_innen an Oury Jallohs Tod überdeutlich nahe legen? Vor allem die Befragung durch die Nebenkläger_ innen, also die Vertreter_innen der Familienangehörigen Oury Jallohs, haben bisher zum Vorschein gebracht, dass die diensthabenden Polizeibeamt_innen sich an keinerlei Vorschriften hielten, sondern einfach basierend auf Willkür handelten. Angefangen bei einer völlig ungerechtfertigten Verbringung Oury Jallohs in das Polizeirevier, über dessen grundloser Ingewahrsamnahme, Ankettung an allen vier Gliedmaßen trotz hohem Alkoholspiegels, sowie fremddokumentierten Kontrollgängen, bis hin zu der Nichtfreilassung Oury Jallohs trotz längst erfolgter Feststellung seiner Identität. Keine_r habe etwas angeordnet und keine_r etwas angeordnet bekommen – niemand ist verantwortlich. Ein vermeintlich ganz normaler Arbeitstag auf einem Polizeirevier in Deutschland, der in der drastischsten Katastrophe endet:
Ein Mensch stirbt.
Oury Jalloh – Das war Mord!
Aufklärung! Wahrheit! Gerechtigkeit!