Hätte uns vor den Debatten, die Sarrazins Thesen auslösten, jemand gefragt, ob eben diese eine breite öffentliche Diskussion auslösen könnten – wir hätten es verneint. Mit einem in so einfachen Maschen gestrickten Biologismus bekommt man keine publizierende Katze mehr hinterm Ofen hervor. Allein ein ernsthaftes Befassen mit einer derart geballten Vereinfachung sozialer Verhältnisse auf eine ebenso vereinfachte Biologie des Menschen würde jeden Publizierenden bereits disqualifizieren – dachten wir bislang.
Wir dachten Rassismus und Antisemitismus wäre in dieser Offenheit zumindest bei Menschen der öffentlichen Eliten vom Tisch – versucht die ZAG doch seit Jahren weit subtilere Formen rassistischer und antisemitischer Diskriminierungen darzulegen, die unserer Meinung nach die Lebensbedingungen der Vielen zur Hölle machen. Daß Sarrazins Thesen als Buch verpackt zum auflagenstärksten Sachbuch des Jahrzehnts wurden, hat uns entsprechend verblüfft.
Dieselben Behauptungen aus der Feder eines NPD-Mitglieds – vermutlich hätte nicht mal die Fachwelt, die sich mit Publikationen am rechten Rand befasst, besondere Notiz davon genommen – der Remix wäre nicht mal als alter Wein in neuen Schläuchen wahr genommen worden. Ohne die Prominenz Sarrazins und seine Herkunft aus der bürgerlichen Mitte, wäre diese Debatte nicht so bereitwillig aufgenommen worden. Dabei zeigt sich, dass Sarrazin kein Einzelfall ist, biologistischer Rassismus noch nicht passé ist.
In seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« beklagt er vornehmlich den demografischen Wandel. Dieser brächte materielle Nachteile für die Volkswirtschaft mit sich und es sähe aufgrund des Mangels an Humanressourcen, sprich verwertbarer Qualifikation, auch düster für die Zukunft aus. Da würde weder der Zuzug minder Gebildeter aus Ländern mit vorwiegend islamischen Religionsangehörigen etwas fürs Bruttosozialprodukt erbringen, noch die Alimentierung der Armen durch den Staat sinnvoll sein, da diese keinen Anreiz hätten ihre Stellung durch Bildung zu verbessern. Da Intelligenz nach Sarrazin zum größtem Teil erblich sei, ist klar wohin das Argument zielt: auf die genetisch begründete Bildungsbegabung, die in bestimmten Nationen höher sei als andernorts; auf die selbstverschuldete materielle wie geistige Armut der sozial Deklassierten; auf den Staat der nicht genügend Leistungsanreize für gebärfreudige Akademikerinnen böte. Als akademisch ausgebildeter Ankläger der Aufgeklärten trat Sarrazin an, um Rechenschaft abzulegen als eine Art Controller des Sozialstaats. Seinen Rechenschaftsbericht brachte er zugleich in die Form eines Sprachrohrs einer schweigenden Leistungssäckl tragenden Mehrheit – dem Rücken der Nation aus Mittelschichten und Eliten. Um die körperliche, die biologische, die natürliche Existenz der Nation, in ihrer speziellen Eigenschaft deutscher Natur zu sein, sorgt sich Sarrazin. Vielleicht war es diese als existenzielle Angst formulierte nationale Sorge um die Reproduktion der Leistungstragenden und ihrer Tugenden, warum ihm in seinen Ausführungen als anerkannt deutscher Leistungs- und Tugendträger so debattenaufmerksam gefolgt wurde. Diese grundlegende Sorge wurde geteilt: es ging um die gesellschaftliche Grundlage des Wirtschaftsstandorts. Vielleicht wagte nun – im April des Jahres 2011 – die Sozialdemokratie letztlich deswegen nicht, ihn auszuschließen: Der Mann hatte, bei aller Kritik von Kanzlerin bis Bundespräsident, öffentlich und vielleicht gerade auch als Sozialdemokrat wortreich in das Schlimmste geblickt, was einer Nation wiederfahren kann: ihrer eigenen Abschaffung – von innen heraus. Dies durch Auflösung ihrer Fundamente – die im konservativen Demokratieverständnis auf einen gesellschaftspolitisch soliden Konsens beruhen, nun aber biologisch zersetzt werden.
Eine derartig elaborierte Konstruktion kann sich nur ein Sozialdemokrat ausdenken. Ein irgendwie diffus verankerter Materialismus wird – auf zwei Sphären gespalten – als Widerspruch gegeneinander ausgespielt, um beliebiges zu sagen – das, was man schon zuvor meinte. Das ist nicht mal ein Taschenspielertrick: eine platt materialistische Sicht auf Kultur wird einer platt materialistischen Sicht auf Natur gegenübergestellt. So wird die Möglichkeit einer Veränderbarkeit beider Sphären von vornherein fallen gelassen, zugunsten biologisch fixierter Gegebenheiten. Sarrazins Thesen zugespitzt, wäre in Deutschland als Kulturnation, in der Leittugenden und wirtschaftliche Macht bzw. Wohlstand als untrennbar gelten, die deutsche Kultur in den Genen deutscher Leistungsträgerhirne verschlüsselt fixiert.
Nun scheint diese Debatte um Sarrazins Thesen in Deutschland - obgleich gar nicht so lange her - nicht nur im medialen Feuilleton bereits recht weit in den Hintergrund geraten zu sein. Neben einer beschleunigten Zirkulation recycelter Nachrichten lag dies vielleicht an sich überschlagenden Ereignissen – um den Umgang mit dem nun zurückgetretenen Minister zu Guttenberg, mit den Umwälzungen im Maghreb, mit der atomaren Energiegewinnung. Dennoch wollen wir – nicht als Nachlese, sondern deutlich bildungsund meinungsoffensiv – den Kern um Sarrazins biologistische Argumentation thematisieren.
Eure ZAG