zurück zur Inhaltsangabe

Das Elend der theoretischen Paranoia

Zur Kritik am »Critical Whiteness«-Ansatz als Anleitung antirassistischer Praxis

Alban Werner

Im Heft Nr. 57 (Herbst 2010) setzte sich die Redaktion der ZAG mit Problemen des gegenwärtigen Antirassismus auseinander. »Endlich!«, werden außer mir noch viele andere innerlich ausgerufen haben, die seit einiger Zeit ein Unbehagen über den Zustand antirassistischer Praxis verspüren. Wichtig fand ich insbesondere folgende Schlussfolgerungen der ZAG:

Warum in der letzten Bemerkung der »Opfer«-Begriff wieder eingeführt wird, den emanzipatorische Theorien wegen seiner stigmatisierenden und Betroffene als passive Handlungsgegenstände hinstellenden Wirkung verabschiedet hatte, ist mir nicht ganz klar. Ansonsten finde ich es aber richtig und wichtig, dass einige Grundprobleme antirassistischer Theorie und Praxis hier gebündelt thematisiert werden. Unbedingt hinzugefügt werden muss m.E., dass sich antirassistische Praxis gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie ja eigentlich verändern will, stark verselbstständigt hat. Die Spaltung antifaschistischer und antirassistischer Gruppen nach dem Paradigma »Antideutsche« vs. »Antiimps« und die postmodern durchgestylten Mobilisierungsplakate, die einem im Szeneviertel regelmäßig auffallen, erscheinen vielen OttonormalverbraucherInnen eher als Zeugnisse eines elitären Paralleluniversums radikalisierter Mittelschichtskinder und weniger als Ausdrucksweise einer wirklichen Bewegung, die rassistische Zustände aufhebt.

Im selben Heft 57 der ZAG präsentierte sich nun unter der Überschrift »Genormtes Deutschsein? Weiß-Sein und antimuslimischer Rassismus« in einem Artikel von Ilka Eickhof der sog. »Critical Whiteness«-Ansatz. Das hat eine bittere Ironie, denn nach meinem Eindruck treffen alle o.g. negativen Zustandsbeschreibungen zum heutigen Antirassismus auf diesen Ansatz als Kritikpunkte zu. Die von »Critical Whiteness« vorgestellte Perspektive auf Rassismus finde ich theoretisch schwach, inhaltlich irreführend und zuende gedacht politisch verheerend, weil sie demobilisierend wirkt und antirassistische Praxis auf völlig falsche Fährten schickt.

Erstens begeht der Ansatz einen grundlegenden theoretischen Fehler, weil er die Perzeption des »Anderen« mit seiner Hierarchisierung gleichsetzt. »Mit dieser Unterscheidung [zwischen Muslimen und »Weißen«] wird eine Hierarchie hergestellt, indem die Markierung und Positionierung des »Anderen« durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft als Nicht-Weiß-Sein erfolgt. Weiß-Sein und damit die eigene gesellschaftliche Position steht mit der für sich selbst beanspruchten Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft beziehungsweise Nation, ohne dass dies explizit benannt werden muss«. Dem Critical Whiteness-Ansatz unterlaufen hier mindestens zwei schwerwiegende Fehler. Zum einen ist die Identifizierung des Gegenüber als »Anderer« nicht gleichzusetzen mit seiner Bewertung als niedriger stehend in einer gesellschaftlichen Hierarchie. Ob das eine mit dem anderen zusammenfällt, hängt davon ab, ob in der fraglichen Gesellschaft Wertvorstellungen und Institutionen dominieren, die so ein Ungleichheit verstärkendes Klassifikationsverhalten unterstützen. Auch in einer Gesellschaft mit Institutionen und Wertvorstellung, die stark egalitär sind, kann es zur Marginalisierung von »Fremden« kommen, wenn bspw. die Autochthonen ihre soziale Position bedroht sehen, die am Status Quo hängt. Dann aber muss man als BeobachterIn die Marginalisierung an den Marginalisierungspraktiken von Einzelpersonen und Gruppen festmachen, z.B. an den Maßnahmen, mit denen Autochthone ihre Privilegien schützen. Zum anderen ist es unsinnig, aus der schlichten Wahrnehmung des Unvertrauten als »Anderer« theoretisch einen politisch aufgeladenen Vorwurf zu konstruieren – selbst dann, wenn sich die Wahrnehmung als unvertraut auf »ethnisch« zu nennende Merkmale stützt. Dass jemand, der in seinem Leben noch nie einen Menschen mit dunkler Hautfarbe gesehen hat, diesen zunächst als fremdartig wahrnimmt (was, wie gesagt, analytisch abzutrennen ist von einer Hierarchisierung!), ist genauso banal wie dass ein Mensch, der in einer stark multiethnisch geprägten Gesellschaft aufwächst, ein Umfeld mit Leuten unterschiedlichster ethnischer Herkünfte als das Normalste der Welt empfindet.

Daraus ergibt sich zweitens, dass die allgegenwärtige mediale Repräsentation von »Weißen« schlicht ebenso banal ist. Denn zumindest in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 stellen sie ja auch die Mehrheit der Bevölkerung, und – in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht unwichtig – die unzweifelhaft größte kaufkräftige Gruppe. Wenn der Artikel also Eske Wollrad zitiert mit dem Satz »Ich kann den Fernseher einschalten oder die erste Seite der Zeitung aufschlagen und Menschen meiner Hautfarbe überall repräsentiert sehen«, muss man auf die Feststellung eigentlich ganz plump antworten: »So what?«.

Daran schließt sich eine dritte Schwäche ein. Tatsächlich ist die mediale Repräsentation von MigrantInnen in deutschen (vor allem audiovisuellen) Medien stark von Stereotypisierungen geprägt. Das zeigt sich, wie im Artikel von Eickhof beschrieben, wenn Menschen muslimischen Glaubens immer nur als solche in Talkshows eingeladen werden, weil ihnen nur aufgrund ihrer Betroffenheit wahlweise Expertenstatus oder Befangenheit zugestanden wird. Dieses Vorführen von Menschen anhand von Unterscheidungsmerkmalen ist in der Tat kritikwürdig. Ebenso schlecht ist es, wenn in fiktiven Darstellungen wie Spielfilmen oder Serien MigrantInnen nur in subalternen Positionen oder als Beispiele für abweichendes Verhalten (»schlagender Familientyrann«) vorgeführt werden. Allerdings ist das Problem komplexer, als es der Critical Whiteness-Ansatz wahrhaben will. Denn dass VerbandsvertreterInnen muslimischer Verbände zur Talkshow zitiert werden, wäre dann nicht mehr ein Grundproblem, wenn sie – wie es für VertreterInnen christlicher Kirchen bei Sabine Christiansen und Anne Will schon länger nicht ungewöhnlich war – nicht nur zu religiös oder ethnisch aufgeladenen Problemen, sondern auch zu anderen (sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen) Themen als ernst zu nehmende Beitragende demokratischer Willensbildung eingeladen würden.

Und nicht zuletzt: Dass überproportional muslimische MigrantInnen medial subalterne soziale Positionen repräsentieren, braucht nicht nur auf eine diskriminierende Repräsentation zurückzuführen sein, sondern kann auch die korrekte Wiedergabe einer schlechten Wirklichkeit bedeuten. Eine Wirklichkeit immerhin, in der man auf einen biederen konservativen Klassensprecher à la Christian Wulff warten musste, bis endlich ein Bundesland die erste »türkisch-stämmige« Ministerin erhielt. Das alles bleibt aber verborgen, wenn man mit so zweifelhaften Kategorien wie »Critical Whiteness« die Aufmerksamkeit nur auf vermeintlich automatisch hierarchisierende Sprechpositionen lenkt.

Deswegen finde ich es viertens unverzichtbar, dass man als Maßstab an die mediale Repräsentation von MigrantInnen gleich welcher Glaubensgemeinschaft, und an die individuellen und institutionellen Praktiken gegenüber MigrantInnen gleich welcher Hautfarbe den Maßstab erhebt, ob Menschen, die man als »anders« oder »fremd« registriert, als Individuen behandelt und ernst nimmt. Versteht man sie als Personen, die von ihrem (ethnischen, kulturellen, religiösen) Hintergrund unterscheidbare eigene Interessen, Wünsche und Sorgen haben, oder werden sie nur repräsentiert und behandelt als »Klischees auf zwei Beinen«, die negative oder bevormundend verniedlichte Gebote der fremdartigen Herkunft exekutieren? Wenn man sich auf diesen universalistischen und Diskriminierungen jeder Art radikal ablehnenden Ansatz einigen kann, dann muss man aber auch die empirisch unhaltbare Konstruktion einer homogenen deutschen Mehrheitskultur und ihrer ideologischen Anrufungen aufgeben, wie sie vom Critical Whiteness-Ansatz unterstellt wird. Interessanterweise machen die VertreterInnen von Critical Whiteness damit etwas zu ihrer Referenzkategorie, was jüngst der Rechtstheoretiker Ulrich K. Preuß konservativen AutorInnen wie Josef Isensee als Hintergrundgedanke ihres publizistischen Feldzuges gegen den Islam vorgehalten hat: Nämlich »die imaginäre Welt eines ethnisch homogenen deutschen Nationalstaates«1. Dabei unterscheiden sich Critical Whiteness und die konservativen IslambekämpferInnen zwar im normativen Vorzeichen. Doch das, was die einen unbedingt gegen den vorgestellten Ansturm islamischer Werte meinen verteidigen zu müssen ist dasselbe, was die anderen als Hauptursache rassistischer Alltagsideologie meinen ausgemacht zu haben: Die homogene »bio-deutsche« Mehrheitsgesellschaft, deren vorwiegend christliche Prägung ebenfalls immer mitgedacht wird, hier mit glühender Verehrung, da mit verdächtigender Ablehnung.

Fünftens und zuletzt kann man deswegen festhalten: There is no such thing as a German »Leitkultur« – allenfalls das Grundgesetz, wie ausnahmsweise mal zu recht Cem Özdemir im Interview kundgetan hat. Die Bundesrepublik war schon immer multikulturell, genauso wie ihre Weimarer Vorgängerin und sogar das Kaiserreich – man denke nur an die »Ruhrpolen« oder die keineswegs homogene, sondern bisweilen nach Konfessionszugehörigkeit gespaltene ArbeiterInnenklasse. Auch in der heutigen BRD finden wir von Big Brother bis Vernissage, vom cool distinguierten Philharmonie-Besuch bis zu gröhlenden Fussballfans hier eine bunte Palette an kulturellen Ausdrucksformen vor. Gegen »Stuttgart 21« protestieren bürgerliche VertreterInnen der »Generation Joschka« genauso wie im Hintergrund als organisatorisches Rückgrat altlinke AktivistInnen, und immerhin sogar ein paar EX-CDU-AnhängerInnen2. Ähnlich heterogen sind auch MigrantInnen orientiert und deswegen ist es in der Tat lange überfällig, dass die Rede von den »Ausländern« endlich vom Erdboden verschwindet. Aber die bloße Rede von »Ausländern« ist auch noch nicht gleichbedeutend mit Diskriminierung – entscheidend sind die tatsächlichen Praktiken, die sich daran anschließen. Ich sehe nicht, wie durch die penetrante, ja paranoide Betonung wahrgenommener ethnischer Unterschiede und gezielt abfälliger Sprechweisen im »Critical Whiteness«-Ansatz auf etwas anderes orientiert werden kann, als auf formalisierte Verbotspraktiken, mit denen man (irrtümlich) meint, die sozialstrukturell, kulturell und individuellen Dispositionen verankerte Hierarchisierung der »Anderen« unterbinden zu können. Dann hätte man aber nichts anderes erreicht als eine theoretisch aufgeblasene Variante von »Political Correctness«, und die entsprechende Reaktion in den bekannten Hetzblättern à la »Man wird ja wohl noch sagen dürfen...« wäre ebenfalls vorprogrammiert.

Ulrich K. Preuß hat die Herausforderung für eine radikale, transformatorische antirassistische Praxis ganz treffend auf den Punkt gebracht: »Welches sind die begünstigenden, welches die abträglichen Bedingungen dafür, dass Individuen mit unterschiedlicher sozialer, geographischer und ethnischer Herkunft und kultureller Prägung sich an den Bildungs- und Willensbildungsprozessen eines gemeinsam zu schaffenden gesellschaftlichen und in der Konsequenz auch politischen ›Wir‹ beteiligen und Regeln wechselseitiger Achtung erzeugen und befolgen?«3

Der »Critical Whiteness«-Ansatz kann allerdings nicht zur Antwort beitragen, weil er spiegelbildlich zum hilflosen Konservatismus die falschen Fragen stellt. We, therefore, drop »Critical Whiteness«.

FUSSNOTEN:

1. Preuß, Ulrich K.: Kein Ort, nirgends. Die vergebliche Suche nach der deutschen Leitkultur – Eine Replik auf Josef Isensee, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 55. Jg., Nr. 6/2010, S. 67-79, hier S. 74.

2. Vgl. Walter, Franz: Walter, Franz: Studie zu S-21-Demonstranten. Aufstand der Generation Joschka. Eine Analyse von Franz Walter, 19.11.2010, online im Internet unter http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,729896,00.html (abgerufen am 23.11.2010).

3. a.a.O., S. 78.

zurück zur Inhaltsangabe

Archiv