Die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU ist Anlass für die Idee, doch ein wenig genauer nachzuschauen, wer sich so darauf bezieht, damit arbeitet und darunter firmiert. Die Richtlinie selbst besagt, dass auf nationaler Ebene alle Gesetze in Bezug auf Diskriminierung überprüft werden sollen. Ziel soll sein, damit die Chancengleichheit am Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Alle Menschen, oder besser alle Staatsbürger, sollen gleiche Einstellungschancen (und verfahren), gleiche Bildungsmöglichkeiten und den gleichen Zugang zu staatlichen Leistungen haben.
Zentrale Vorgabe ist, dass niemand aufgrund seiner Herkunft, seines sozialen Geschlechts, seiner Religion, seiner Sexualität oder körperlicher Behinderungen diskriminiert werden darf. Damit entspricht die Antidiskriminierungsrichtlinie einer liberalen Vorstellung von Chancengleichheit. Sie blendet allerdings Prozesse und Strukturen aus, die Ungleichheit produzieren: Produktionsverhältnisse, soziale Arbeitsteilung, undemokratische öffentliche oder private institutionelle Entscheidungsstrukturen. Ein weiterer Grund systematischer Ungleichheit können Normalisierungsprozesse innerhalb von Institutionen und Gesellschaft sein. Das heißt Menschen werden systematisch vom Zugang zu Institutionen ausgeschlossen, weil sie zu Gruppen gehören, die als unnormal, problematisch, anders oder verachtenswert angesehen werden.
So gesehen ist die Antidiskriminierungsrichtlinie eine Art Quadratur des Kreises. Dazu enthält sie als Pauschalansatz auch die Funktion der Neuen Wache in Berlin – eine universelle Kranzabwurfstelle.
Um es vorweg zu nehmen: Als antirassistische Zeitschrift sind wir um jeden Versuch froh, solche Zugänge zu öffnen und den rassistischen, antisemitischen und aggressiven Grundtenor auch nur ein wenig zu dämpfen. Wir sind der Meinung, dass kleine Verbesserungen in unterschiedlichen Bereichen nicht unbedeutend sind. Jedes Jota Veränderung ist wertvoll. Alles, was in irgendeiner Weise dazu führt, den Rassismus und den zugehörigen Mob zu bremsen, ist zu begrüßen.
Unsere Grundhaltung beinhaltet natürlich nicht, Antidiskriminierungsansätze vorbehaltlos zu feiern. Wir setzen uns wie gewohnt kritisch mit den ihnen zugrunde liegenden Annahmen über die Ursachen des Rassismus auseinander. Deshalb erschien es uns notwendig, an dieser Stelle Erklärungsansätze ins Bewusstsein zu rufen, die Rassismus gesellschaftlich innerhalb bestehender Machtbeziehungen und Ungleichheitsverhältnisse verorten. Antidiskriminierungsansätzen, auf denen die Richtlinie der EU basiert, ist vor allem eines gemein: Sie erklären Rassismus psychologisch, sozialisationstheoretisch, anthropologisch oder phänomenalistisch. Diskriminierung wird isoliert als Problem der einzelnen Subjekte begriffen (die leider eine Fehlwahrnehmung haben). Diskriminierung, wie sie sich gesellschaftlich zeigt, wird als Ursache betrachtet.
Den Bedingungen von Diskriminierung wird kaum Beachtung geschenkt, wie zum Beispiel bestehenden Ungleichheitsverhältnissen von Herrschaft und Unterdrückung, die Ideologien der Unter- und Überlegenheit nach sich ziehen. Häufig sind diese Ungleichheitsverhältnisse so selbstverständlich geworden, quasi natürlich, dass die Denk- und Handlungsmuster, die sie begründen, nichts mehr mit Herrschaft und Unterdrückung zu tun zu haben scheinen. Oben und unten, Privilegien und keine, Herren und Untertanen, das ist der gottgewollte Naturzustand der Gesellschaft. Solcherart Gesellschaft als Naturzustand zu beschreiben, geschieht von Seiten der Herrschaft wie auch von Seiten der Untertanen. Beide Positionen sind so an der (Re)-Produktion der Ungleichheitsverhältnisse beteiligt. Antidiskriminierungsansätze berühren diese Verhältnisse erst gar nicht. Sie operieren an der Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit, welche – und das ist das verzwickte – deshalb nicht weniger real ist.
Hinzu kommt, dass Antidiskriminierungsansätze in unseligen Identitätswahrnehmungen verhaftet sind. Identität ist im bürgerlichen Diskurs eben nicht die einfache Feststellung einer Tautologie, nämlich dass ich ich bin und kein anderer. Nicht umsonst ist Identität zentraler Bestandteil der bürgerlichen Ideologie. Eines ihrer größten Sakrilege ist die Missachtung des Prinzips des zur Selbstfindung verpflichteten bürgerlichen Individuums. Identität ist, im bürgerlichen Diskurs essentialistisch, das heißt unwandelbar, eigentlich und authentisch. Dies bedeutet das Ich ist unwandelbar, für immer und ewig, Basta! No change! Zum Anderen werden diesem wahren und eigentlichen Ich kollektive Zuschreibungen – nationale, kulturelle, ethnische zugewiesen. Basta! No change! Sie werden ethnisiert.
Das Problematische daran ist, dass Ethnisierung immer mit Ausschluss verbunden ist. Dieser wird natürlich nicht so genannt, wird ignoriert, aber umso heftiger praktiziert. Identität ist im Kapitalismus nicht ohne Ausschluss zu haben, ob gewollt oder nicht.
Er ist notwendige Schutzmaßnahme, die aus der Krux des bürgerlichen Individuums entsteht, alle anderen als Objekt zu betrachten, nur sich selbst als Subjekt. Sie bleiben solange störende Elemente und Konkurrenten, solange sie keinen Nutzwert für das Ich haben. Da aber das Ziel, allein zu sein – nämlich ohne die Konkurrenz aller, die in gleicher Weise handeln – realitätsfremd ist, wird ein Bereich kreiert, der den Rahmen bildet, innerhalb dem eine ausreichende organisatorische Basis produziert werden kann, gegen andere Kollektive Schutz zu bieten und diese eventuell unterordnen zu können. Rassismus ist daher eine Eigenschaftszuschreibung, bei der es beliebig ist, welcher Begriffe sie sich bedient. Die Benennung des Anderen über Kultur, Identität, Rasse oder wie auch immer unterliegt den Moden, der Kern bleibt.
Der bürgerliche Identitätsbegriff hat fatale Eigenheiten. Er beinhaltet den Mythos der heilen Welt, verortet ganz tief im Inneren, egal ob in einer Person, einer Nation oder einem Volk. Das begründet seinen Erfolg. Lässt er doch träumen von einem Ursprung allen Seins, hinter den niemand zurückgehen kann. Dieses Ureigentliche, der Urzustand ist der Zielpunkt der Reaktion. Persönliche Identität hat als Konsequenz folglich kein anderes Ziel als den Todeszustand. Denn nur in ihm kann die absolute Übereinstimmung des Ichs mit sich selbst bestehen. Jeder Gedanke, jede Handlung oder jedes Gefühl führt zu einer Entfremdung, da sie extern bedingt sind.
Die Distanzierung von solch individualisierenden Ansätzen ist deshalb notwendige Grundlage antirassistischer Arbeit. Diskriminierungen dürfen nicht als Probleme einer abweichenden Minderheit verstanden werden. Rassismus kann nicht durch die Arbeit an den falschen Einstellungen behoben werden. Es kommt auf den Kontext an, in dem Diskriminierungen stattfinden.
Dass die Antidiskriminierungswelle auch seltsame Blüten treibt, ist am Diversity Management zu sehen. Bei Wikipedia prägnant als »Konzept der Unternehmensführung, das die Heterogenität der Beschäftigten beachtet und zum Vorteil aller Beteiligten nutzen möchte« beschrieben. Die individuelle Verschiedenheit soll »im Sinne einer positiven Wertschätzung« besonders hervorgehoben werden. Der Euphemismus der Definition ist auch der Sache selbst zu eigen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein Rassismus, der nach gewinnorientierter Humankapitalverwertungsanwendung strebt – eine Skurilität der besonderen Art. Hier wird die Annahme verwertet, dass Rassismus damit zu tun hätte, dass eine falsche Wahrnehmung den Blick für die vielen, sympathischen und positiven Züge des Anderen trüben würde. Dies wäre zum Schaden des Unternehmens, da personelle Ressourcen brach liegen blieben. Die Motivation der Veranstalter ist sicherlich eine andere, aber es ist ein kontraproduktiver Ansatz, der wegen seiner Blindheit gegen die Ursachen, das rassistische Konstrukt verfestigt.
Obwohl alle Antidiskriminierungsansätze Rassismus als gesellschaftliche Basis nicht beseitigen können, sind sie in der Regel begrüßenswert. Ihr potentieller Gewinn liegt darin, dass die Spitze des Eisbergs etwas weniger garstig und mörderisch werden könnte. Dies allein wäre schon ein riesiger Gewinn.