Kaum eine antisemitische Fälschung war so erfolgreich wie »Die Protokolle der Weisen von Zion«. In diesem Machwerk wurde der angebliche Beweis für die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung konstruiert. Das Werk wird nun seit einem Jahrhundert quer über die Welt als antisemitisches Standardwerk verbreitet. Allein zwischen den beiden Weltkriegen wurden die Protokolle in Auflagen in Millionenhöhe vertrieben. Dass mittlerweile zahlreiche WissenschaftlerInnen, Fachbücher und Gerichtsprozesse das Werk als plumpe Fälschung enttarnt haben, tut der Erfolgsgeschichte des Pamphlets keinen Abbruch. Elemente dieses Werkes finden sich noch heute in der Nazi-Szene (Kampf gegen »Z.O.G.«), in der Rede des CDU-Politikers Hohmann (Bezug auf Henry Ford) und in Teilen des Islam (Hamas Charta). Grund genug, die Geschichte dieser Fälschung zu beleuchten.
Eine der ältesten Formen des Antisemitismus war der dämonologische Antisemitismus christlichen Ursprungs, der die Juden als Verschwörer im Auftrag Satans sah. Aus dieser religiösen Theorie entwickelte sich die moderne, politische Version der »Jüdischen Weltverschwörung«. Nach dieser gibt es eine geheime jüdische Regierung, die mit einem weltweiten Netz getarnter Agenturen Parteien, Regierungen, Medien und Banken kontrolliert, um letztendlich die Welt
zu beherrschen. Diese jüdische Regierung handelt dabei in der Phantasie der Antisemiten nach einem geheimen und uralten Plan, der durch »Die Protokolle der Weisen von Zion« aufgedeckt werden konnte.
Die Fälschung besteht aus 24 Protokollen von angeblichen Reden eines Rabbis, die auf ca. 100 Seiten niedergeschrieben wurden. Der Inhalt ist nur schwer wiederzugeben, da die Schreibweise schwülstig, unstrukturiert, durcheinander und in sich unlogisch ist. Kernthemen der Protokolle sind v.a. die Verhöhnung des Liberalismus, verschiedene Methoden zur Erlangung der Weltherrschaft und die Beschreibung des zukünftigen jüdischen Weltstaates. Die Aussage lautet in etwa: Der Liberalismus soll ins Chaos führen und nur ein Despot kann dann noch die Welt retten und diesen bestimmen natürlich die Weisen von Zion. Um dies zu erreichen, sollen Juden z.B. als Hauslehrer und Gouvernanten getarnt christliche Familien zu Atheismus und Lastern anstacheln. Auch Prostitution und Trinksucht soll hierfür gefördert werden. Für den Fall, dass der Plan auffliegt, sollen Untergrundbahnen gebaut werden, mittels derer dann ganze Hauptstädte gesprengt werden können. Den Text durchziehen elementare Widersprüche. So halten die »Weisen«die Macht an einer Stelle bereits in den Händen, an einer anderen dauert es noch ein Jahrhundert. Mal fürchten sich die Regierungen vor den »Weisen«, mal kennen sie ihre Existenz überhaupt nicht. Einige politische Bezüge in den Protokollen deuten auf die politische Lage Frankreichs am Ende des 18. Jahrhunderts hin.
Die Entstehung der Protokolle steht mittlerweile eindeutig fest: Die zaristische Geheimpolizei »Ochrana«1 war verantwortlich für die ursprüngliche Fälschung der »Protokolle«. Die Zentrale des Ochrana-Auslandsdienstes saß zu dieser Zeit (1894 bis 1899) in Paris und ihre vorrangige Aufgabe war die Bekämpfung russischer Revolutionäre im Exil. Die »Protokolle« wurden auf Anweisung von dem Ochrana-Auslandschef Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski gefälscht. Dieser war bekannt für politische Intrigen wie falsche revolutionäre Bombenattentate und gefälschte Dokumente. Die Motive der Ochrana und Ratschkowskis waren hierbei recht vielschichtig. Zum einen sollte die politische Opposition gegen die russische Autokratie und die revolutionären Strömungen als das Werk einer jüdischen Weltverschwörung entpolitisiert und diskreditiert werden. Vor allem der anfangs eher liberale Zar Nikolaus II sollte dementsprechend beeinflusst werden. Auch der Förderung eines Polizeibündnis, später Militärbündnis, zwischen Russland und Frankreich sollte durch die Fälschung nachgeholfen werden. Mittels der Protokolle konnte zudem Einfluss auf politische Machtkämpfe am Zarenhof genommen werden, indem unliebsamen Personen unterstellt wurde, Agenten der »Weisen« zu sein. Finanzminister Sergej Witte wurde auf diese Weise durch die »Protokolle« als ein Werkzeug in den Händen der »Weisen« dargestellt.
Die gefälschten Protokolle sind im Kern nur ein Plagiat des Buches »Dialogue aux Enfans entre Montesquieu et Machiavel«. Dieses wurde 1864 von dem französischen Rechtsanwalt Maurice Joly als verschleierte Kritik an dem Despotismus von Napoleon III herausgegeben. Da offene Kritik an Napoleon III verboten war, ersann er 25 fiktive Dialoge zwischen den Herren Montesquieu und Machiavelli.2 Montesquieu vertritt hierbei den Liberalismus und Machiavelli einen zynischen Despotismus. Das Buch wurde trotz der stilistischen Verschleierung umgehend verboten und Joly zu einer Haftstrafe verurteilt. Die 24 Kapitel der »Protokolle « entsprechen in etwa den 25 Kapiteln des »Dialogue«. Über 160 Stellen der »Protokolle« (ca. 2/5) wurden direkt von Joly abgeschrieben. In neun Kapiteln der »Protokolle « ist mehr als die Hälfte von Joly entlehnt. Das Kapitel VIII der »Protokolle « wurde fast komplett bei Joly entnommen. Dreisterweise enthält das Exemplar von Jolys Buch in der Bibliotheque National sogar noch Anstreichungen, die mit den Fälschungen in den »Protokollen« übereinstimmen. Eine weitere Quelle, die Einfluss auf die Protokolle hatte, ist der Roman »Biarritz«. Diesen veröffentlichte Hermann Goedsche 1868 unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe. Goedsche war bereits wegen einer Brieffälschung aus der preußischen Post geflogen. Er wollte einem demokratischen Politiker einen geplanten Königsmord anhängen. In dem Kapitel »Auf dem Judenfriedhof in Prag«3 beschreibt er eine schaurige Szene: Nachts versammeln sich an dem Grab eines Rabbis die Stammeshäupter der 12 Stämme Israels. Sie berichten über ihre Bemühungen, die Weltherrschaft zu erobern. Dieses Kapitel wurde u.a. in Russland, in Odessa, in Prag und in Frankreich nachgedruckt und verbreitet. Der Werdegang solcher Erzeugnisse vom Roman zum »Dokument« soll hier beispielhaft grob nachgezeichnet werden. Im Jahr 1881 verbürgte sich die französische Zeitung »Le Comtemporain « für die Echtheit der Geschichte. Ein »englischer Diplomat« namens John Readclif war ihr Zeuge.4 1896 wurde die Geschichte in »Le Juifs, no contemporains« veröffentlicht. Im Vorwort wurde dieses Mal gar ein »Großrabbiner John Readclif« als Quelle genannt. 1933 wurde dieser zum heldenhaften Antisemiten. In Schweden wurde die Geschichte mit der traurigen Vorbemerkung veröffentlicht, der aufrechte John Readclif hätte die Enthüllung des jüdischen Komplotts mit seinem Leben bezahlt. In Nazi-Deutschland wurde schließlich publiziert, dass »der große Seher und Warner« Goedsche von dem jüdischen Sozialisten Lassalle selbst zum Prager Friedhof geführt wurde und die Rede des Rabbis mit eigenen Ohren gehört hat.
1903 wurden die »Protokolle« erstmals in der antisemitischen russischen Zeitung »Snamaja« (Das Banner) veröffentlicht.5 Der Herausgeber Kruschewan stiftete wenige Monate vor der Erstveröffentlichung in Bessarabien ein antisemitisches Pogrom an. Er berief sich bei der Veröffentlichung auf die Übersetzung eines französischen Dokumentes mit dem Titel »Sitzungsberichte des Weltbundes der Freimaurer und Weisen von Zion«. Die antikommunistische, antiliberale und antisemitische russische Organisation »Bund des Russischen Volkes«, bekannt als »Schwarzhunderter «6, veröffentlichten 1906 eine Version unter dem Titel: »Die Feinde des Menschengeschlechts – Protokolle aus den Geheimarchiven der Zentralkanzlei von Zion«. Doch erst der mystische Schriftsteller Sergej Nilus brachte den »Protokollen« den ersten Durchbruch. Er veröffentlichte 1905 die Protokolle in der dritten Auflage seines Buches »Das Große im Kleinen – Der Antichrist als nahe politische Möglichkeit«. In allen Kirchen Moskaus wurden daraufhin Zitate aus Nilus Protokollen in den Predigten verlesen. Nilus war ein überzeugter Antirationalist. Er sah überall die Ankunft des Antichristen, so in der Demokratie und in der Wissenschaft.
Dass etwas mit den »Protokollen« nicht stimmen kann, fällt allein jedem auf, der die diversen Varianten vergleicht. Zwischen den meisten Herausgebern der Protokolle bestehen keine Übereinstimmungen, was die Quellen der »Protokolle« angeht. In der Version der russischen Zeitung »Smanja« stammen die Protokolle laut dem Übersetzer aus einer »Zentralkanzlei von Zion in Frankreich«. Wie und wo die Kopien entstanden, war in der Redaktion der Zeitung derweil jedoch unbekannt.7 In der späteren Version »Die Feinde des Menschengeschlechts « wird berichtet, die Protokolle seien »mit großer Mühe in Form einzelner Seiten« aus dem »Zentralarchiv der Zentralkanzlei von Zion herausgeholt«worden.8 Nilus hingegen erklärt in einer Vorbemerkung seines Buches, die Protokolle seien »einem der einflussreichsten und höchstgestellten Führer der Freimaurerei nach einer geheimen Sitzung der ‚Eingeweihten’ in Frankreich, dieser Brutstätte der Freimaurerverschwörung, von einer Frau entwendet worden.«9 In einer Anmerkung desselben Buches heißt es: »Diese ‚Protokolle’ wurden einem ganzen Buch von ‚Protokollen’ entnommen. Alles dies wurde von meinem Korrespondenten aus dem Geheimarchiv der Zentralkanzlei von Zion beschafft, die sich gegenwärtig in Frankreich befindet.« Später behauptet Nilus, die Protokolle seien: »(...) ein Plan, der von den Führern des jüdischen Volkes während der vielen Jahrhunderte seiner Zerstreuung ausgearbeitet und schließlich dem Rate der Ältesten durch den Fürsten des Exils, Theodor Herzl, unterbreitet wurde, in der Zeit des ersten Zionistenkongresses, den er nach Basel im August 1897 einberufen hatte«.10 In der ersten deutschen Version der »Protokolle« wird berichtet, die jüdische Regierung hätte einen Späher zum Zionistenkongress nach Basel geschickt. Dieser bestach einen Boten der Frankfurter »Judenloge« und ließ die Protokolle in einer Nacht abschreiben. Eine andere deutsche Version der »Protokolle« behauptete, die »Protokolle« seien von der russischen Polizei in einem jüdischen Haus beschlagnahmt worden. Diese Aufzählung von Widersprüchen zwischen den verschiedenen Fälschungen ließe sich beliebig fortsetzen.
Bereits zwischen 1903 und 1907 dienten die »Protokolle« in Russland zur Vorbereitung und Anstiftung von antisemitischen Pogromen. Sie waren Teil der Propaganda des »Bund des Russischen Volkes« gegen den Liberalismus als ein jüdisches Komplott. Als Zar Nikolaus II seine Beeindruckung durch die »Protokolle« äußerte, ordnete der Innenminister eine gründliche Untersuchung an, die sie als Fälschung enttarnte. Zar Nikolaus II entschied daraufhin: »Lasst die Protokolle fallen. Eine reine Sache darf man nicht mit schmutzigen Methoden verteidigen.«11 Trotzdem galten die »Protokolle« als Pflichtlektüre in der »Weißen Armee«. Ehemalige zaristische Funktionäre waren treibende Kraft bei der internationalen Verbreitung der Protokolle. Britische Zeitungen wie die Times, die Morning Post und der Spectator widmeten den Protokollen 1920 lange unkritische Leitartikel. 1921 wies die Times zwar eindeutig nach, dass die Protokolle eine Fälschung sind. Trotzdem ging die Verbreitung der Protokolle weiter. In den USA bewarb und verbreitete 1920 der Autohersteller Henry Ford die Protokolle in seiner Zeitung »The Dearbon Independent« in Form einer Serie. Diese brachte er später als Buch »The international Jew: the world’s formest problem« heraus. In dieser Variante finden sich amerikanische Einlagen und Änderungen. Hitler war begeistert und erklärte 1923 zur Präsidentschaftskandidatur Fords: »Ich wünschte, ich könnte einige meiner SA-Männer nach Chicago und in andere amerikanische Großstädte schicken, um bei den Wahlen zu helfen (...) Wir haben gerade seine antijüdischen Artikel übersetzen und veröffentlichen lassen. Das Buch wird in Millionen Exemplaren in ganz Deutschland verbreitet.«12
Auch in Deutschland blieben die Protokolle nicht ohne Wirkung. Der »Protokolle«-Propagandist Schabelski- Borg stürmte 1922 mit Gesinnungsgenossen eine Solidaritätskundgebung für das hungernde Russland in Berlin und schoss aufs Präsidium. Er sah in dem Vorsitzenden Pawel Miljukow von den Konstitutionellen Demokraten einen Agenten der »Weisen von Zion«. Im Juni 1922 ermordeten deutsche Rechtsextremisten den Reichsaußenminister Walther Rathenau. In einer Wirtschafts-Kritik hatte Walther Rathenau die erbliche Oligarchie beklagt: »Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents und suchen sich die Nachfolger aus ihrer Umgebung.«13 Für Antisemiten war Rathenau damit ein Mitglied der »Weisen von Zion«. Der Mittäter Ernst Techows brachte vor Gericht Rathenau mit den »Weisen« in Verbindung. Auch der Gerichtspräsident hob in seiner Urteilsverkündung die Bedeutung der »gemeinen Schmähschrift « bei diesem Mord hervor. Im NS-Staat wurden die »Protokolle« obligatorisches Lehrmaterial an den Schulen. Das Zusammentreffen von den »Protokollen« und völkischer Ideologie schuf hierbei apokalyptische Visionen. Hitler berief sich in »Mein Kampf« und in seinen Reden direkt auf die Protokolle. Hannah Arendt stellte später gar die These auf: «Die Nazis begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewusst nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.«14
Doch mit der militärischen Niederlage Nazi-Deutschlands war die Geschichte der »Protokolle« noch lange nicht vorüber. Vor allem im Nahen Osten ging ihre Verbreitung weiter. Der ägyptische Präsident Nasser berief sich schon wenige Jahre später für seinen Kampf gegen Israel öffentlich auf die »Protokolle«. 1984 druckte die Zeitschrift der iranischen Botschaft in London »Imam« Auszüge der »Protokolle« als Serie ab. Die halboffizielle ägyptische Zeitschrift »Oktober« druckte 1993 lange Auszüge der »Protokolle« in Verbindung mit Hitler-Zitaten ab. Zusätzlich wurde behauptet die Juden brächten Kaugummi ins Land, mit dem sie arabische Frauen zur Hemmungslosigkeit verführen wollten. Die »Protokolle« brachten es bis in die Charta der terroristischen Hamas, des palästinensischen Zweiges der Muslimbruderschaft. In Artikel 23 der Hamas-Charta wird ausgeführt: »Ihr Komplott wurde in den Protokollen der Weisen von Zion niedergelegt: Ihr derzeitiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was dort gesagt wurde.«
Dass eine Schrift, die ursprünglich auch als Beweis eines jüdischen Komplotts gegen das Christentum zusammengezimmert wurde, nun als Beweis für eine anti-moslemische Verschwörung taugt, macht den funktionalen Charakter der »Protokolle« deutlich. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung dient als Rechtfertigung für antisemitische Gewalt bis hin zur gezielten Vernichtung.
Antifaschistisches Infoblatt Berlin (AIB)
1 Geheimpolizei im zaristischen Russland
2 The Times, 16., 17.,18. August 1921
3 Sir John Retcliffe (Pseudonym von Hermann Goedsche), Biarritz. Erste Abtheilung: Gaeta- Warschau-Düppel, Bd. I, Berlin 1868, S. 141 bis 193.
4 Die Ähnlichkeit zwischen John Readclif und John Retcliffe ist offenbar. Der Text wurde als Teil eines Werkes namens »Annals of the Political and Historical Events of the Last Ten Years.« bezeichnet.
5 »Programm für die Welteroberung durch die Juden«, Snamja, 26. August bis 7. September 1903, St. Petersburg
6 Diese Gruppe bestand aus bewaffneten Banden, die Liberale ermordeten und Judenpogrome durchführte. Hier waren u.a. Ratschkowski und Kruschewan aktiv.
7 Snamja, St. Petersburg, 26. August 1903.
8 Mgr. Jouin, »Le Peril judeo-macconique«, Bd. IV: Les »Protocoles« de 1901 de G. Butmi, Paris 1922, Seite 4.
9 S. Nilus, »Velikoe v Malom«, Zarskoje Selo 1905, S. 394
10 S. Nilus, »Bliz est’, pri dverech«, 1917, Seite 88.
11 Siehe: »Protocoly Sionskich Mudrecov«, Paris 1938, Seite 105 und 106.
12 Chicago Tribune, zitiert in J.R. Carlson, »Under Cover«, New York 1943, S. 210
13 Neue Freie Presse, 25.12.1902, Wien
14 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, S. 601