zurück zur Inhaltsangabe

Mit dem Bauch denkt es sich nicht gut
die deutsche Linke und der Antiamerikanismus

" Klar ist: Eine linke Kritik an der US-Außenpolitik und an den gesellschaftlichen Verhältnissen in der kapitalistischen Führungsmacht ist berechtigt und notwendig. Die Frage ist nicht, ob Linke die militarisierte Außenpolitik, den Arbeitszwang für Sozialhilfebezieher oder die Todesstrafe in den USA kritisieren sollen, sondern wie. Begründete Kritik ist vom bloßen antiamerikanischen Ressentiment zu trennen." (Hahn 2003, S.12; Hervorhebung im Original)

"Uuh Ess Aah, internationaahle Völkermordzentraahle", mir sind die Parolen der linken (West-) Berliner Demos der 80er und 90er noch im Ohr, oder auch diese: "USA - SA – SS". Das reimt sich, das lässt sich gut rufen und hallt, von Hunderten oder Tausenden rhythmisch skandiert, schön dumpf von den Häuserwänden wieder. Ob nun das Staatswesen der USA bzw. dessen aktuelle Politik oder die Bevölkerung gemeint war, so genau wollten wir das damals gar nicht wissen, um uns das schöne Feindbild nicht durcheinander bringen zu lassen. Die Gleichsetzung mit dem faschistischen Fachpersonal für Massenmord haut jedenfalls vorne und hinten nicht hin. Bei aller Kritik an der US-Regierung stimmte sie damals genau so wenig wie heute, selbst angesichts der abschreckenden Menschenrechtsverstöße amerikanischer Staatsdiener und ihrer privaten Helfer in Guantanamo und Abu Ghraib. Und auch das Verdikt, Völkermorde zu planen oder auszuführen geht, bezogen auf die USA, schlicht am Punkt vorbei.

Waren unsere Parolen Ausdruck eines spezifisch linken, antiimperialistisch motivierten Amerikahasses oder Antiamerikanismus? Ohne Zweifel. Die Sympathie für die Schwächeren, für die in der globalisierten Ökonomie Ausgebeuteten und ihrer Rechte Beraubten und für diejenigen, die von Militärdiktaturen verfolgt und ermordet werden, paart sich oft und gern mit einer Ablehnung des mächtigsten Landes der Welt, den USA, der AmerikanerInnen und alles Amerikanischen. Den USA wird von manchen Linken alles Schlechte dieser Welt zugeschrieben. Nach dieser vereinfachenden Einteilung der Welt in Gut und Böse sind die USA unmittelbar für jeden Menschenrechtsverstoß auf Kuba verantwortlich, der sich so problemlos entschuldigen lässt.

"Die USA haben keine Kultur", "die Amerikaner sind oberflächlich", "ich würde nie in die USA reisen" sind deutsche Standardsprüche auch unter Linken, die in diesem Punkt absolut konform mit der Mehrheitsmeinung gehen. Wer sowas sagt, war im Regelfall noch nie in den USA, um sich ein eigenes Bild zu machen. Mal ganz zu schweigen davon, US-amerikanische FreundInnen zu haben oder den oppositionellen Diskurs in den USA auch nur ansatzweise wahr zu nehmen. Viele deutsche Linke besitzen nur eine sehr oberflächliche und klischeehafte Vorstellung vom Gegenstand ihrer mit großer Überzeugung vorgebrachten Ressentiments. Höchste Zeit, das zu ändern.

Was ist spezifisch deutsch am Antiamerikanismus?
Dass die undifferenzierte und uninformierte Ablehnung der USA weit vor dem Vietnamkrieg (1964-73) oder den neokonservativen Präsidenten Ronald Reagan (1980-88) und George W. Bush (2000-?) eine wichtige Rolle bereits im erwachenden deutschen Nationalbewusstsein spielte, zeigt Herbert Weber in seinem Aufsatz "Antiamerikanismus in Deutschland" in einem vom Berliner "Zentrum Demokratische Kultur" herausgegebenen Bulletin von wechselhafter Qualität. Über die deutsche Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts, Deutschland war damals nicht mehr als eine Ansammlung zahlreicher kleinerer und größerer autoritärer Staaten, schreibt Weber:

"Die Vorstellung eines historisch 'gewachsenen Volkstums' mit spirituellem Ahnen- und Abstammungsglauben stand im fundamentalen Gegensatz zum sehr rationalen, ideellen Gründungsprinzip der Ersten Französischen Republik, 'Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' – entsprechend wurden deren egalistische (auf Gleichheit gerichtete, GR) Prinzipien zum 'undeutschen' Feindbild erhoben. Schon früh richtete sich diese exklusive Nationalidee gegen als nicht-deutsch definierte Gruppen, etwa Juden, Polen oder Franzosen. Die deutsche Kultur wurde von Verfechtern dieser Theorie als 'höherwertig' angenommen und sollte 'rein' bleiben, so dass andere Völker und Kulturen davon ausgeschlossen, unter Umständen sogar bekämpft werden sollten. Das Gleichheitsprinzip der Französischen Revolution machte dagegen keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Im Bevölkerungsgemisch des demokratisch verfassten Einwanderungslandes USA war an eine einheitliche, historisch gewachsene Kultur noch viel weniger zu denken." (Weber 2004, 15)

Ihre gegen die Kolonialmacht England errungene Unabhängigkeit gründeten die USA auf die Menschenrechte, auf Freiheit und Gleichheit, auf die Herrschaft der Vernunft, verstießen jedoch durch die Sklavenwirtschaft und die Unterwerfung der UreinwohnerInnen des nordamerikanischen Kontinents gegen diese Prinzipien. Kein Wunder also, dass die Einwanderergesellschaft USA den Anhängern eines deutschen Nationalbewusstseins, das sich auf eine "metaphyische Verwurzelung" in deutscher "Tradition und Scholle" (Weber 2004, 16) gründete, als das Gegenbild schlechthin erschien.

Auch heute geht es oft bei antiamerikanischen Ressentiments um eine angestrebte Reinheit bzw. Homogenität, also gegen eine Einwanderungsgesellschaft. Wenn z.B. von der "mangelnden Kultur der Amerikaner" die Rede ist, schwingt mit, dass keine Kultur vorhanden sein könne, wenn Menschen ständig zuwandern und sich vermischen oder das Land keine lange Geschichte analog zu den europäischen Nationalstaaten hat. Einen politischen Ausdruck findet dieses Denken in Deutschland z.B. in der "Leitkultur-" Debatte. Von hier ist es kein großer Schritt bis zu offen rassistischen Weltbildern, besonders, wenn von der Höherwertigkeit "der deutschen Kultur" ausgegangen wird und Kultur als etwas quasi angeborenes erscheint, vom dem die Individuen determiniert sind, anstatt sie sich in einem durchaus unterschiedlich verlaufenden Prozess anzueignen und dabei umzuformen bzw. auch Teile "ihrer Kultur" zurückzuweisen bzw. durch neue Elemente zu ersetzen.

Antiamerikanismus, was ist das eigentlich?
Von Antiamerikanismus sollte man sprechen, wenn der Blick für die kulturelle, gesellschaftliche und politische Realität der einzigen verbleibenden Weltmacht von Vorurteilen und Ressentiments getrübt ist, wenn "aus dem Bauch heraus" pauschalisiert, entstellt oder projiziert wird :

"Antiamerikanismus ist (...) ein unbarmherzig kritischer Impuls gegenüber amerikanischen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen, Traditionen und Werten; er geht einher mit einer Aversion gegen amerikanische Kultur und ihren Einfluss im Ausland, verachtet häufig den amerikanischen Nationalcharakter (oder was dafür gehalten wird), mag amerikanische Menschen, Stile, Verhalten, Kleidung usw. nicht, lehnt die amerikanische Außenpolitik ab und ist fest davon überzeugt, dass amerikanischer Einfluss und amerikanische Präsenz wo auch immer auf der Welt schlecht sind." (Paul Hollander, zit. n. Markovits 2004, 17)

Und die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan unterscheidet legitime USA-Kritik, die "zwischen positiven und negativen Bewertungen Amerikas" differenziert, von Antiamerikanismus, der alles ablehne, "was jeweils für das Wesen der USA gehalten wird". (Schwan, zit. n. Hahn 2003, 15)

Sozialpsychologisch erfüllen Vorurteil und Ressentiment gegenüber den USA eine ähnliche Funktion wie Rassismus: Die jeweils eigene Gruppe wird gefestigt und gestärkt, indem das "Andere" definiert und als Feindbild besetzt wird. Dadurch wird eine chaotische, widersprüchliche und bisweilen unverstandene Welt schön und handhabbar in "gut" und "böse" organisiert. Dazu bieten sich die USA hervorragend an, gerade aufgrund ihrer politischen und militärischen Macht, ihrer technologischen und kulturellen Führungsposition. In vielen Fällen ist es wohl gerade die im Vergleich zu Deutschland größere Widersprüchlichkeit und Heterogenität der US-Gesellschaft, die zu Vereinfachungen und Stereotypen verführt.

Denn vieles, was aus den USA kommt, lässt sich mit guten Gründen kritisieren, genau so wie es viele Dinge gibt, die von den meisten EuropäerInnen als positiv bewertet, aber nicht unbedingt mit den USA in Verbindung gebracht werden (Jazz und Blues, Gleichstellungsgesetze, Telefon, Antidiskriminierungstrainings, Feminismus, Flugzeuge, Bürgerrechtsbewegungen, Internet). So entsteht die paradoxe Situation, dass sich einerseits amerikanisches Englisch weltweit immer stärker als Verkehrssprache durchsetzt und neue Verständigungsmöglichkeiten schafft, dass amerikanische kulturelle Werkzeuge wie z.B. Software von Microsoft oder Apple von Menschen auf der ganzen Welt verstanden und benutzt werden (ein Zustand, den es in der Menschheitsgeschichte noch nie gab und der für jede/n Reisende/n ungeahnte Erleichterungen mit sich bringt), dass aber andererseits die USA auf dem besten Weg sind, zum meistgehassten Land in der Welt zu werden.

Die EU und die USA: Konkurrierende Machtblöcke
Was die Stimmung in Europa, besonders in Westeuropa angeht, wo das Ansehen der USA seit dem dritten Irak-Krieg auf einem historischen Tiefstand ist (Markovits 2004, 23-25), gibt es jedoch auch handfestere Gründe für eine Abkehr von der seit dem Zweiten Weltkrieg engen Anbindung an die USA: Nach 1945 standen die USA für Befreiung vom Faschismus und danach, im Westen, für Schutz vor Überwältigung durch den Warschauer Pakt, dessen reales Bedrohungspotenzial allerdings übertrieben wurde. Amerikanische Lässigkeit und Lebensstile wurden nachgeahmt; Marlon Brando, James Dean und Elvis Presley wurden zu Vorbildern für Generationen von Teenagern. Seit dem Ende des Kalten Kriegs werden die USA als Schutzmacht nicht mehr gebraucht. Stattdessen entwickelt sich die EU unter Führung von Deutschland und Frankreich zu einem konkurrierenden Machtblock, dessen ökonomische Interessen teilweise quer zu denen der USA liegen.

In der DDR dagegen waren die USA der imperialistische Hauptfeind und standen sinnbildlich für alle Übel (und Verlockungen) des "Coca-Cola-Kapitalismus". Heute bedeuten die USA für die meisten West- und Mitteleuropäer Unilateralismus , Machtstreben und militärische Eskalation. Seit den islamistischen Anschlägen auf Madrider Vorortzüge mit fast 200 Toten befürchtet man sogar ein erhöhtes Anschlagsrisiko aufgrund einer engen Verflechtung mit den USA. Vor diesem Hintergrund beschreibt der amerikanische Sozialwissenschaftler Andrei S. Markovits die Funktion des europäischen Antiamerikanismus zutreffend: "In Zeiten stetig wachsender Konkurrenz mit den Vereinigten Staaten wird er zu einer Ideologie, die eine Identität des wachsenden Machtblocks Europa begründen hilft." (Markovits 2004, 27).
In dieser heraufziehenden Konkurrenz ist es völlig naiv, die ökonomische Interessengemeinschaft EU zum Hort des Guten, Wahren und Schönen zu verklären. Das kann jeder, der beispielsweise die europäische Migrations- und Abschottungspolitik beobachtet, unschwer erkennen.

Andererseits ist die einseitige Orientierung auf die USA als Inkarnation des Bösen genau so undifferenziert und falsch wie die von der Bush-Administration verbreitete Weltsicht. Wenn die USA als "das Böse" angesehen werden, führt das z.B. häufig zu einer Verharmlosung der mörderischen Diktatur Saddam Husseins im Irak, wie man sie, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen, in dem in Europa gefeierten Film "Fahrenheit 9/11" von Michael Moore findet.

Undifferenzierte Vorwürfe
Nicht jede Kritik an der Politik oder Kultur der USA ist "antiamerikanisch". Und natürlich ist der Antiamerikanismusvorwurf von deutschen Konservativen und anderen benutzt worden, um oppositionelle Bewegungen zu denunzieren. Die Linke sollte aber genug Souveränität besitzen, sich unabhängig von der Tagespolitik anzuschauen, was denn an dem Vorwurf dran sein könnte, anstatt reflexhaft in eine Verteidigungshaltung zu verfallen.

Doch oft wird von einer Allgegenwart des Antiamerikanismus gesprochen, die nicht zutrifft. So sind für den bereits erwähnten Herbert Weber "positive wie negative Amerikabilder" stets "Projektionen einer deutschen Befindlichkeit und nehmen amerikanische Realitäten nur bedingt wahr" (Weber 2004, 15) So, als könne man als Deutsche/r kein angemessenes USA-Bild haben. Und Markovits schreibt, dass "sowohl Antiamerikanismus als auch Antizionismus (Antisemitismus noch nicht, zumindest nicht in seiner manifesten Form, obwohl auch das noch kommen könnte) zu Grundbedingungen dafür geworden [sind], wer und was sich in Europa 'links' nennen darf". (Markovits 2004, 11) Er unterstellt in Bezug auf die USA (und auf Israel) allgemeinen Hass und eine autoritäre Selbstgleichschaltung der ihrerseits äußerst widersprüchlichen und komplexen europäischen Linken, die nicht zutrifft.

So sind etwa viele deutsche Linke eher besser über die USA informiert als der Bevölkerungsdurchschnitt, haben teilweise in den USA gelebt, gearbeitet, Beziehungen geführt oder unterhalten gute Freundschaften, sind über die oppositionellen Diskurse relativ gut im Bilde und haben durchaus ein angemessenes Bild der politischen und gesellschaftlichen Situation in den USA. Die Frage ist nicht, ob es einen linken Antiamerikanismus gibt. Den gibt es ohne Zweifel. Sondern: Kann man ihn als die alles verbindende Klammer, als die "Eintrittskarte" in die europäische Linke ansehen? Und: Wie stark behindert sich die Linke selbst durch den Rückfall in einfache Gut-Böse-Schemata in ihrer Analyse- und Überzeugungsfähigkeit? Ist sie in der Gefahr, auf einen derzeit äußerst populären Zug aufzuspringen, der aber in die falsche Richtung fährt?

Antiamerikanismus und Antisemitismus
In der Literatur zum Antiamerikanismus wird häufig konstatiert, dass dieser oft gepaart mit seinem "Zwillingsbruder" Antisemitismus auftrete. Etwa in dem bereits erwähnten Bulletin des "Zentrum Demokratische Kultur" oder bei Andrei Markovits. Das trifft besonders zu, wenn behauptet wird, dass Juden die Politik der USA steuern, z.B. deren Haltung zu Israel und Palästina. Oft wird dabei eine jüdische Verschwörung, ein Wirken im Verborgenen unterstellt, von jeher eines der Kernelemente antisemitischer Propaganda. Für das antisemitische Ressentiment nicht nur von Neonazis sind die USA das ideale Objekt. Das liegt erstens wiederum an der Weltmachtposition der USA, geht es dem Antisemitismus doch traditionell darum, eine Verschwörung mit dem Ziel der globalen Macht zu unterstellen. Und zweitens, weil die USA, im Gegensatz z.B. zu Deutschland und Frankreich, eines der wenigen entwickelten Länder weltweit sind, in dem Juden relativ frei von Anfeindung leben und Anteil am öffentlichen Leben haben können. Schon allein diese Tatsache muss die USA für Antisemiten zum Hassobjekt machen.

In Deutschland wird seit der Vereinigung Antisemitismus wieder zunehmend offen geäußert. Besonders in Westdeutschland war das nach der Vernichtung der europäischen Juden im Faschismus ein Tabu gewesen. In Ostdeutschland ging man dagegen eher davon aus, als "antifaschistische" Gesellschaft a priori auf der guten Seite zu stehen. Der Antisemitismus galt offiziellerseits als überwundener Nebenwiderspruch; religiöse Betätigung hatte etwas Anrüchiges. Im neu vereinigten Deutschland hat sich die Situation grundlegend gewandelt: In vielen Äußerungen z.B. zu den Entschädigungszahlungen an Juden bestätigt sich der bitterböse Satz, die Deutschen hätten den Juden den Holocaust nie verziehen. Dennoch geht man zu weit, wenn "der Antiamerikanismus" pauschal mit "dem Antisemitismus" in einen Topf geworfen, verrührt und als vorherrschende und alle verbindende Hauptströmung der europäischen Linken bezeichnet wird. Man muss schon genau den Einzelfall angucken: Was ist antisemitisch? Was ist antiamerikanisch? Was ist berechtigte Kritik, die nicht von Ressentiments geleitet ist?

Bezugspunkte zwischen linker Kapitalismuskritik und Antisemitismus entstehen besonders dann, wenn ein imaginierter "Gesamtkapitalist" an die Wand gemalt wird, der wie in einer Puppenbühne die Fäden der Weltwirtschaft zieht. Wenn etwa das "böse" Finanzkapital ("Wall Street") personifiziert und mit dem Judentum in Verbindung gebracht wird, im Gegensatz zum "guten", produktiven Kapital etwa bei Firmengründungen oder Auslandsinvestitionen. Um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Hochspekulative Anlageinstrumente der internationalen Finanzmärkte, die dazu führen, dass täglich riesige Summen am PC immer schneller um den Globus geschossen werden, so dass Nationalökonomien - wie etwa im Fall der Asienkrise vor einigen Jahren – zusammen brechen, können und sollen natürlich kritisiert werden. Abzulehnen ist aber, wenn dahinter ein koordinierter Plan bzw. eine jüdische Verschwörung gesehen wird.

Kapitalismuskritik über Bord werfen?
Doch zurück zum Antiamerikanismus: Will man von einer linken Warte aus dessen Funktion bestimmen, dann ist die in dem ausgezeichneten Reader von Michael Hahn "Nichts gegen Amerika – Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte" wieder gegebene Definition hilfreich: Antiamerikanismus "exterritorialisiere die negativen Folgen des Kapitalverhältnisses" und "reterritorialisiere" sie in den USA. Dabei bliebe "die Kritik an der eigenen Herrschaft, an deutschem Staat und Kapital nicht nur aus, sondern deutsche Herrschaft (werde) gerade damit legitimiert, glorifiziert und verewigt." Daher sei Antiamerikanismus "eine konformistische Rebellion, die sich an nicht erreichbarem schadlos" hielte. (Hahn 2003, 18)

Folgt man dieser Einschätzung, dann werden also mit dem antiamerikanischen Ressentiment die negativen Erscheinungen kapitalistischer Herrschaft, die zunehmende Armut, die Umweltzerstörung, die Konsumorientierung usw. einseitig in den USA lokalisiert und die eigene, deutsche bzw. europäische Herrschaft damit von Kritik freigehalten. So kann die gefühlsgesteuerte Ablehnung der USA dabei helfen, das wiedererstarkende deutsche Nationalbewusstsein zu festigen oder aber, alternativ, die EU positiv zu besetzen. Dann ist Antiamerikanismus, wie Hahn zutreffend feststellt "Begleitmusik zum Aufstieg und zur neoliberalen Zurichtung eines eigenen europäischen Machtblocks" (Hahn 2003, 13). Und zwar indem die Machtpolitik und die kapitalistischen Widersprüche in Deutschland und der EU mit Blick auf die USA vernebelt werden.

Go West!
Jeder und jedem, der noch nie dort war, kann man nur empfehlen, möglichst für länger als zwei Wochen in die USA zu fahren, herumzureisen, mit Menschen zu reden, sich einladen zu lassen, Freundschaften zu schließen, die Zeitungen zu lesen, sich die sozialen Brennpunkte anzuschauen und die Widersprüchlichkeit und Faszination des Landes und seiner Menschen zu erleben. Möglicherweise fällt danach manches Urteil über die USA etwas vorsichtiger aus. Natürlich, Erfahrung bedeutet nicht automatisch Erkenntnis, ohne ein Abschiednehmen vom einfachen Gut-Böse-Schema geht es nicht.

 

Georg Rohde

(1) "USA – internationale Völkermordzentrale" wurde offenbar auch auf einer spontanen Antikriegsdemonstration nach dem 11. September 2001 am 8. Oktober des gleichen Jahres in Hamburg gerufen (Woeldike 2004, 75).

(2) Bei Andrea Woeldike in dem bereits erwähnten Reader des Zentrum Demokratische Kultur finden sich ein paar schöne Beispiele dafür, wie die Anschläge des 11. September 2001 prominenten deutschen FriedensaktivistInnen Gelegenheit dazu gaben, die eigene Geschichte, konkreter, die Faschismuserfahrung, auf die aktuellen Ereignisse zu übertragen. An diesen Beispielen wird greifbar, was mit "Projektion" gemeint ist (Woeldike 2004, 75). Das gleiche projektive Motiv wird, wenn auch mit anderer Zielrichtung, von Neofaschisten benutzt, wenn z.B. das Aktionsbüros Norddeutschland auf seiner Internetseite in wechselnder Abfolge ein Bild des brennenden World Trade Centers nach den Anschlägen vom 11. September und eines von Toten im bombardierten Dresden zeigt. (Kummer 2004, 78)

(3) Unilateralismus ist weltpolitisch einseitiges Handeln, das nicht international abgestimmt ist.

(4) Ein Sprachschüler hat mir vor einigen Jahren die überraschende Mitteilung gemacht, dass neben dem damaligen US-Präsidenten Clinton auch der deutsche Außenminister Fischer Jude sei. Beides ist natürlich Blödsinn. Und auf Deutschlands Straßen und an deutschen Kaffeetischen kann man wieder Sprüche wie "Das sind doch Juden" hören, wenn es darum geht, irgend jemanden, in diesem Fall (nichtjüdische) Grundstücksmakler, als besonders verschlagen und geldgierig zu charakterisieren.

(5) Zu den Berührungspunkten von Kommunismus und Antisemitismus vgl. Haury,

(6) Thomas (2002): Antisemitismus von links. Hamburger Edition.
Genauer auseinander dividiert wird diese Frage von Frank Illing, 2003.

Zum Weiterlesen:

zurück zur Inhaltsangabe

Archiv