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Von Kopftüchern und Bärten, Teil 1:
Frankreichs Kopftuchdebatte

„Ils en ont parlé“ (Sie haben davon gesprochen) lautet der Titel eines berühmten Gemäldes des französischen Malers Caran d’Ache. Man sieht darauf umgestürzte Tische, zerschlagenes Geschirr am Boden und ähnliche Überreste eines Festmahls, das ein böses Ende nahm. Bei Caran d’Ache ging es damals um die Dreyfus-Affäre um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie spaltete Frankreich, entzweite Familien und Freundeskreise. Ähnlich verhält es sich allem Anschein nach derzeit in der französischen wie der deutschen Linken und den progressiven sozialen Bewegungen. Heute ist es die berühmte „Kopftuch“-oder auch „Islam-Debatte“, welche privaten wie politischen Zoff auslöst. In Frankreich kann man derzeit zu fast keiner linken Party, keinem Gewerkschaftskongress und keinem privaten Abendessen gehen, ohne dass sich unweigerlich zwei Lager herausbilden würden, die in dieser Frage einander unerbittlich gegenüber zu stehen scheinen.

Das ist kein Resultat des Zufalls oder reiner Willkür. Denn tatsächlich treffen hier zwei verwickelte Debattenstränge aufeinander: Die Frage zu den Rechten des Individuums gegenüber seiner „angestammten Gemeinschaft“, also der persönlichen Emanzipation einerseits – und die Frage des Rassismus oder der Behandlung von in vielfältiger Form benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die als solche kollektiv kenntlich gemacht werden, auf der anderen Seite.

Das Streitobjekt: Das neue Kopftuch-Verbots-Gesetz
Ausgelöst hat die jüngste Kontroverse die neokonservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin, mit ihrem Vorhaben, gesetzgeberisch aktiv zu werden, um den laizistischen Anspruch der französischen Republik neu zu definieren. Konkreten Ausdruck soll dies mittels eines Verbotsgesetzes finden, das de facto dazu führen wird, dass Kopftuch tragende Schülerinnen aus moslemischen Familien vom Unterricht ausgeschlossen und von der Schule verwiesen werden können. Denn niemand bestreitet ernsthaft, dass es genau darum – und so gut wie nur darum geht.

Zwar betrifft der Wortlaut des Gesetzes alle „auffällig getragenen religiösen Symbole“, die nunmehr aus öffentlichen Schulen verbannt werden sollen. Doch Anhänger der beiden anderen monotheistischen Religionen werden davon in der Regel nicht betroffen sein. Auch bisher waren sie faktisch von den seit 1989 verschiedentlich ausgesprochenen Schulverweisen gegen Kopftuch tragende Schülerinnen – denen die gesetzliche Grundlage fehlte, die jetzt nachgeliefert wird – nicht betroffen. Denn Jugendliche aus orthodoxen jüdischen Familien, die eine Kippa tragen, besuchen ohnehin meist konfessionelle Privatschulen. Und für die Sprösslinge aus streng katholischen Familien gibt es die nach wie vor katholisch geprägten Privatschulen. Diese sind in den letzten Jahrzehnten zugleich zu einem Elitezweig des gesamten Schulsystems mutiert, während sie sogleich immer noch öffentliche Subventionen erhalten. Zuletzt wollte 1984 eine sozialdemokratische Regierung die Subventionen einschränken, sah sich jedoch mit einer massenhaften Mobilisierung der konservativen Rechten und der extremen Rechten auf den Straßen konfrontiert. Ungefähr 20 Prozent eines Jahrgangs besuchen diese, als privilegiert geltenden Privatschulen. Dort wird auch künftig das neue Gesetz zum Laizismus nicht gelten. Deswegen schicken auch manche, besser begüterten, moslemischen Eltern ihre Zöglinge auf solche Schulen, wo in der Regel das Ablegen des Kopftuchs nicht gefordert wird. Das gehört zu den Widersprüchen des laizistischen Anspruchs der französische Republik. Zu den weiteren Widersprüchen zählt, dass die laizistischen Spielregeln in den Départements des Elsass und Nordlothringens, die zwischen 1871 und 1918 zum damaligen Deutschen Reich gehörten, keine Anwendung finden. Denn dort wird weiterhin Religionsunterricht an den staatlichen Schulen erteilt, anders als im übrigen Frankreich; in diesen Départements gilt noch das Konkordat mit der katholischen Kirche.

Die Herkunft des französischen Laizismus
Der staatsoffizielle französische Laizismus in seiner jetzigen Form ist, genau wie das Bild von Caran d’Ache, ein Produkt der Dreyfus-Affäre. Da die französischen Sozialisten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in die Regierung eintraten, um die Republik gegen die damals anwachsende antisemitische Massenbewegung zu verteidigen – aber auch, weil die Entwicklung hin zum Reformismus in ihren Reihen weit gediehen war – konnten sie das Gesetz von 1905 zur Trennung von Kirche und Staat inspirieren. In den öffentlichen Schulen sollte dafür gesorgt werden, dass von der konfessionellen Herkunft der Kinder und Jugendlichen abgesehen wird, um aus ihnen allesamt Bürger der Republik zu formen. Daher wurde der Religionsunterricht in staatlichen Schulen abgeschafft und christliche Kreuze wurden aus den öffentlichen Räumen entfernt.

Zugleich wurde dieser staatsoffizielle Laizismus (la laïcité de l’Etat) auch zur Herrschaftsideologie gegenüber den Kolonialsubjekten: Diese, die meist traditionellen und noch stärker von religiösen Vorstellungen bestimmten Gesellschaften entstammten, sollten durch die französische Schule an ein „höheres Zivilisationsideal“ herangeführt werden. Das entspricht der üblichen Dialektik des aufgeklärten bürgerlichen Staates, der zugleich auch kolonialer Herrschaftsapparat ist. Besondere Brisanz hatte das im „französischen Algerien“, mit dessen europäischen Bewohnern, die seit 1848 die französische Vollbürgerschaft besaßen. Gleichzeitig herrschte in Algerien eine Art religiös begründetes Apartheidsystem: Je nachdem, welcher Religionsgruppe die Subjekte angehörten, hatten diese einen unterschiedlichen Rechtsstatus. Christen, Juden und Moslems, auch falls sie ungläubig sein sollten – wurden in zivilrechtlichen Angelegenheiten je nach den Vorschriften ihrer jeweiligen Religion behandelt. Seit 1905 galt für die privilegierte christliche Bevölkerung auch der laizistische Staatsanspruch. Wenn ein Angehöriger der zahlenmäßig stärksten, aber auch der am stärksten benachteiligten Gruppe, der „Musulmans d’Algérie“, nun die vollen Bürgerrechte erlangen wollte, musste er individuell „seinem“ religiös untermauerten Rechtsstatus abschwören und seinen Beitritt zur offiziell laizistischen Staatsdoktrin, wie sie für die Christen galt, erklären. Nicht sehr verwunderlich ist es daher, dass der offiziell laizistische Anspruch des Staates in den Augen der Betroffenen als ein nacktes Herrschaftsinstrument erschien.

Die Einwandererkinder in Frankreich: Gleichheit oder Differenz?
Es ist erst 40 Jahre her, dass diese koloniale Apartheidsgesellschaft in Algerien ihr Ende nahm. Viele Nachfahren der damaligen Kolonialsubjekte, die heute als Einwanderer in Frankreich leben, haben ihre Erinnerung daran behalten. Dennoch drückte sich die Forderung der Immigrantenkinder, vor allem aus den Maghrebländern, nach dem Ende der vielfältigen Diskriminierung und Benachteiligung in der französischen Gesellschaft noch in den 80er Jahren vorwiegend mittels der Forderung nach „Gleichheit“ aus. Ein Beispiel dafür ist der „Marsch für die Gleichheit“ (la marche pour l’égalité), ein spektulärer Fußmarsch arabischstämmiger Einwandererkinder von Marseille nach Paris im Dezember 1983, den bei der seiner Ankunft über 100.000 Menschen empfingen.

Erst in den letzten Jahren änderte sich die Perspektive. Hintergrund dafür ist das vielfache Scheitern dieser Hoffnung auf zukünftige „Gleichheit“, etwa aufgrund der Verschärfung der sozialen Krise in den Banlieues (Trabantenstädte), die immer mehr von der allgemeinen gesellschaftlichen Prosperität abgekoppelt und einer überwiegend polizeilichen Krisenverwaltung unterworfen sind und der Enttäuschung der Einwandererkinder durch die Linksregierungen. Die Frustration einer lautstarken Minderheit, drückt sich eher im Verlangen nach „Differenz“ aus. Daher erfinden sich manche Einwandererkinder eine „Rückbesinnung auf eine Tradition“, die jedoch – genau wie diese überkommenen Familienstrukturen – in den französischen Hochhaussiedlungen längst zerfallen ist. Daher irrt auch Horst Pankow, der in Konkret 02/2004 über französische Zustände schreibt, dass „zunehmend“ Islamisten „ihre Töchter vermummt in die Schule schicken“. Dieser Zustand, also die Ausübung unmittelbaren Zwanges durch die Väter oder Familien, dürfte heute nur in den seltensten Fällen hinter den Konflikten um Kopftücher an öffentlichen Schulen stecken. In den 80er Jahren, als die ersten Streitfälle auftauchten, mag das der Fall gewesen sein. Diese Situation ist aber immer seltener anzutreffen, verfolgt man die Berichte der Streitkommissionen, die dann in solchen Fällen eingesetzt werden. Heute wird die Elterngeneration vollkommen vom Agieren der Nachwachsenden überrollt, die ihnen vorwerfen, sich „40 Jahre lang alles gefallen lassen“ zu haben, und demonstrativ die Provokation der Mehrheitsgesellschaft suchen – durch die sie sich benachteiligt sehen. Es handelt sich um eine ideologische Projektion als „moderne“ Krisenantwort, nicht um den Überrest archaischer Tradition.

Eine emanzipatorische Perspektive ist das bestimmt nicht, zumal wenn islamistische oder andere reaktionäre Identitätsideologien ins Spiel kommen. Das ist mitunter der Fall, wenn Kleingruppen mit entsprechender Ideologie in den Trabantenstädten aktiv werden, die sich von dieser Entwicklung Auftrieb erhoffen; eine Erklärung ist ihr Wirken nicht, denn es handelt sich eher um eine Veränderung der Alltagsideologie in einem Teilbereich der Gesellschaft. Bei den Angehörigen der Lehrberufe und öffentlichen Dienste, die mit Jugendlichen aus den Trabantenstädten und Einwandererfamilien konfrontiert sind, rief diese Entwicklung Besorgnis hervor. Auf ihre Sorgen und Ängste zu antworten, gibt die Regierung vor, wenn sie nunmehr ihre Gesetzesvorlage zum Kopftuch, die am 10. Februar in erster Lesung angenommen wurde – vom Parlament verabschieden lässt.

Das politische Kalkül der Regierung
Von Juli bis Dezember 2003 hatte eine von Präsident Chirac eingesetzte Kommission aus 20 Juristen, Soziologen und Philosophen an Vorschlägen zu diesem Thema gearbeitet. Sie reichten von der Einführung eines Kopftuchverbots über einen allgemeinen Abbau der Benachteiligungen und Diskriminierungen bis zur symbolischen Anerkennung je eines moslemischen und eines jüdischen Feiertags in den öffentlichen Schulen als Ausdruck eines Universalismus. Letzterer Vorschlag wurde durch die regierenden Konservativen mehrheitlich sehr schnell abgeschmettert: Wo kämen wir denn hin, wenn „bei uns, im christlichen Abendland, der Islam auf Kosten des Christentums gefördert“ würde? Erst im November hatte die Raffarin-Regierung aus ökonomischen Gründen, um die Jahresarbeitszeit zu verlängern, den Pfingstmontag als gesetzlichen Feiertag gestrichen. Konservative und Rechtsextreme tönten daher unisono gegen den Vorschlag der Kommission. Der Verlauf der Debatte im Dezember ist nicht das einzige Anzeichen dafür, dass sich hinter dem vorgeblich universalistischen Anspruch in Wirklichkeit eine französische Version der Leitkultur-Debatte verbirgt. Denn real geht es darum, Ansprüche der dominierenden Mehrheitskultur an Minderheiten festzuschreiben.

„Laizismus“ als Ausschlussinstrument
Nach dem Gesetz von 1905 richtete sich der laizistische Anspruch an die Institution Schule: diese sollte einen in religiöser Hinsicht neutralen, öffentlichen Raum bilden, der es den Schülern erlaubt, mit unterschiedlichen Einflüssen konfrontiert und nicht im Sinne eines herrschenden Glaubens indoktriniert zu werden. Jetzt aber ändert sich die Stoßrichtung: vom Anspruch an die Institution wird der Laizismus, nach dem neuen Gesetz, zum Anspruch der Institution an die SchülerInnen und zum Ausschlussinstrument gegen einen bestimmten Teil von ihnen. Die Methode des Schulverweises selbst ist höchst umstritten. Denn sofern man – mit guten Gründen – davon ausgeht, dass das Kopftuch im Islam ein Instrument der Geschlechterkontrolle und der Herabsetzung der Frau darstellt, erscheint es widersinnig, eine Ausschlussmaßnahme zu treffen, die nach dieser Sichtweise allein die Opfer trifft. Der konservative Bildungsminister Luc Ferry hatte einen Moment lang den Widerspruch erkannt. Im Januar schlug er deshalb vor, auch die Träger von Bärten mit Schulverweis belegen zu können. Tatsächlich tragen oft islamistische Gläubige längere Bärte, weil sie behaupten, der Prophet habe ihnen das Rasieren verboten. Einen richtigen Ausweg bot dies aber nicht, denn dann ist der universalistische Anspruch passé: da es neben Islamisten- auch Öko-, Hippie- und alle möglichen anderen Bärte gibt, ist es nur schwer vorstellbar, dass man die zu verbannenden Bärte herausfindet, ohne auf die „ethnische“ Herkunft des Betreffenden abzustellen. Ohne also zwischen dem Bart von Maurice und jenem von Mouloud zu unterscheiden. Ein ziemlich eklatanter Widerspruch für eine Maßnahme, die doch angeblich darauf abzielt, einen Universalismus zu stärken, der von der Herkunft der Individuen abstrahieren will. Nur wenige Tage nach seinem Vorschlag, wollte Minister Ferry auch nichts mehr von ihm wissen und erklärte, die Idee eines Verbots von Bärten sei „Unfug“.

Zudem stellt sich die Frage, was denn mit den auf Grundlage des jetzt verabschiedeten Gesetzes künftig ausgeschlossenen Schülerinnen passieren soll. Eine Minderheit, die einem besonders traditionalistischen Milieu entstammen, werden ihre Ausbildung aufgeben und dann früh heiraten. Andere können Kurse am nationalen Zentrum für Fernunterricht CNED belegen. Dort aber kostet das Unterrichtsmaterial Geld. Die Schülerinnen können zu Hause, in ihrem familiären oder „natürlichen“ Milieu, ihr Lernmaterial studieren. Einen richtigen Sieg der Emanzipation mag man darin nicht erkennen. Eine dritte Option ist der Besuch einer konfessionellen Privatschule, die wiederum bezahlt werden muss. Islamische Privatschulen gibt es bisher nur wenige, da die Einwanderer meist armen Gesellschaftsschichten angehören. Vielleicht werden sich jetzt welche gründen, mit saudi-arabischem Geld zum Beispiel. Zumeist akzeptieren auch katholische Privatschulen Trägerinnen von Kopftüchern als Schülerinnen. Den Siegeszug der Emanzipation vermag man in alledem nicht zu erkennen.

By the way
Der Begriff der Grande Nation, den einst Napoleon benutzte, wird heute nur von deutschen Chauvinisten und Anderen, die von Frankreich keine Ahnung haben, benutzt.

Bernard Schmid, Paris

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