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Eine große Koalition in der das Schreckliche das Furchtbare jagt

Ein Gespräch mit Detlev Claussen über die Walserdebatte, den Artefakt Holocaust und den 'pc'-Diskurs.
von Tobias Faßmeyer, ZAG

Detlev Claussen ist Professor am Institut für Soziologie in Hannover. Er veröffentlichte neben zahlreichen weiteren Studien: 'Was heißt Rassismus' (Darmstadt 94) und 'Grenzen der Aufklärung, Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus' (Frankfurt/M. '94)

ZAG
In der Debatte um die Friedenspreisrede Martin Walsers ist die Aussage der Tabubrecher und Anti-pc-Kämpfer wieder voll ins öffentliche Rampenlicht getreten: es gäbe einen Rechtfertigungsdruck, eine Art Zensurbehörde, die festlege, was gesagt werden dürfe. Also eine, je nach aktueller Zielrichtung - in diesem Fall jüdische Verschwörung und Meinungsdominanz - die berechtigte Positionen unterdrücke und tabuisiere. Was ist die Funktion dieser 'Tabubrecherei'? Warum ist es möglich unter diesem Ausdruck mit ursprünglich emanzipatorischem Anspruch weitgehend widerspruchslos reaktionäre Positionen zu vertreten bzw. dafür Akzeptanz zu gewinnen?

Detlev Claussen
Ich denke das bedient sich schon demokratischer Spielregeln, ist aber relativ alt bei diesen Themen. Das gibt es schon im 19. Jahrhundert, daß versucht worden ist, nicht nur reaktionäre Meinungen, sondern eben auch spezielle Äußerungen, die Menschen verletzen, als unterdrückte Meinungen auszugeben. Das gehört zum Antisemitismus, das gehört zum Rassismus, das gehört zu diesem Instrumentarium. Das was verletzen soll, und das ist eben mehr als Meinung, sondern Gewaltpraxis oder gewalttätige Praxis, agressive Praxis zu verkleiden als unterdrückte Meinung. Man spielt mit diesem Underdog-Effekt, aber es ist total absurd, wenn man sich vorstellt, wer das vorbringt: Der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die in der Paulskirche vor laufenden Kameras. Da kann man doch nicht von einer unterdrückten Meinung sprechen, das ist völlig absurd.

ZAG
Aber es hat doch tatsächlich relativ gut funktioniert. In der nachfolgenden Diskussion wurde ein wirkliches Tabu, durch Augstein mit der Wiedereinführung der Vokabel 'Weltjudentum' gebrochen. Ist damit Antisemitismus wieder öffentlich in einem Bereich jenseits des klassischen Rechtsradikalismus möglich und somit gesellschaftsfähig geworden? Ist das eine grundsätzliche Veränderung innerhalb der Gesellschaft, also eine Wiederauferstehung des rassistischen Antisemitismus? Oder war dieser Antisemitismus bisher lediglich nicht öffentlich, also nur latent vorhanden?

Detlev Claussen
Ich glaube das sollte man nicht unterschätzen, auf dem politischen Feld und auch in der Öffentlichkeit gehört das zur Geschichte der Bundesrepublik und zwar von Anfang an. In gewisser Weise ist das eine linksliberale Illusion, die von vielen Linken geteilt worden ist. Das gehört im Grunde genommen zur Erfahrung des 19. Jahrhunderts, daß man sagt, der schlimme Antisemitismus das war gestern. Das ist aber nicht der Fall. Das sind auf der einen Seite Rückgriffe, auf der anderen Seite aber auch tatsächlich neue Sachen. Mit dem Vokabular von gestern kommt man da nicht gut ran. Das ist ein Problem, das man sich in diesem Fall Walser überlegen muß. Ich glaube nicht, daß in diesem Fall das Entscheidende der Antisemitismus der Leute ist, die so etwas ausnutzen oder gebrauchen oder in die Diskussion einführen. Sicher gibt es da Überhänge. Bei Walser gibt es dieses kleinbürgerliche Potential und auch dieses sich als Geschlagener zu präsentieren, was völlig lächerlich ist, bei einem der stärksten Erfolgsschriftsteller, der besonders in den letzten Jahren auf der nationalen Welle eine literarisch unverdiente Renaissance erlebt hat. Das ist aber etwas, das steckt in ihm, das gehört zu ihm, das sollte man ihm auch abnehmen, dieses Kleinbürgerliche. Dazu gehört auch diese Wahrnehmung, daß man überrollt wird von der gesellschaftlichen Entwicklung.

Das stimmt ja auch irgendwo. Die gesellschaftlichen Entwicklungen sind mächtiger, das Kleinbürgertum ist etwas Antiquarisches. Hier ist es ja auch schon kein reales Kleinbürgertum, sondern es sind kleinbürgerliche Mentalitäten, die weitergespielt werden. Daher kommt auch dieses Mitleidheischende, daß einem alles auch wirklich leid tut. Das ist das Schreckliche, daß der Mann sich immer als Opfer darstellt. Im Grunde genommen ist das lächerlich.

Das was viel gefährlicher ist, ist was damit gemacht wird. Da ist nicht das Entscheidende, daß Leute speziell antisemitisch sind oder nicht, sondern daß sie das als Instrumentarium benutzen. Und dies ist etwas, was man generell feststellen kann - das schließt z.B. auch Geschichten wie diese Unterschriftenkampagne der CDU ein. Da ist nicht das Entscheidende, daß dies eindeutig rassistisch oder sonstetwas ist, sondern das Entscheidende ist, daß man mit diesen Instrumenten spielt. An diese Instrumente kann man sich gut gewöhnen. Das stumpft ungeheuer ab, das Sensorium läßt nach. Und das macht auch die Gefährlichkeit dieser rhetorischen Figuren wie: ach ja, man muß 'mal was gegen die 'political correctness' sagen usw. - aus.

ZAG
Welche Motivation haben Leute wie Walser, ihrer Meinung nach tabuisierte Bereiche in die Diskussion zu bringen?

Detlev Claussen
Er hat überhaupt nichts Tabuisiertes gemacht. Er steht da als Tabubrecher. Das ganze ist Teil dieses Showbusiness, der stattfindet und da kann man klagen oder nicht, das ist eine Realität. Die politische Öffentlichkeit wird nach den Gesetzen des Showbusiness organisiert. Hier stellt Walser eben den Kleinbürger als Opfer dar. Sein Interesse ist das eines Schauspielers. Der hat das Interesse im Mittelpunkt zu stehen, tolle Rolle, sehr gut gespielt usw. Das ist Narzißmus, nicht mehr. Ihn bewegt nichts weiter und das ist bei Walser auch nicht neu, er spielt diese Rolle schon recht lange. Zu dieser Darstellung des Kleinbürgers gehören auch Dinge, die sind richtig antiintellektuell. Es hat auch immer einen leicht antisemitischen Touch. Das gehört zu dieser kleinbürgerlichen Darstellung: die großen Intellektuellen, die bestimmen was man sagen darf und ich der Dichter, der spricht aus, was das Volk fühlt. Eine absurde Konstruktion, eine Schauspielerkonstruktion, aber es kommt gut an.

Das was ich viel schlimmer finde, ist die Unsicherheit der Öffentlichkeit. Eines der deprimierendsten Ereignisse fand ich diese Standing Ovations nach dem Vortrag in der Paulskirche. Da waren eigentlich alle, die gerne zu solchen Kulturereignissen hingehen und bei Walser konnte man schon wissen, daß da etwas kommt. Das war einigen Leuten auch klar, z.B. in der FAZ. Welche Ausmaße das angenommen hat, das haben sie unterschätzt. Ganz deprimierend finde ich jedoch diese Unsicherheit in der Öffentlichkeit. Die Leute denken: Kultur, Aufführung, Redefreiheit, jeder kann sagen, was er will, usw., großer Schriftsteller, 70 Jahre, fällt bald der Griffel aus der Hand, kriegt 'nen Friedenspreis, das kann doch nicht schlecht sein, da muß man klatschen. Der Einzige, der ein Sensorium dafür gehabt hat, das ist ja das Irre dabei, das war Ignatz Bubis. Der hat gemerkt: da stimmt etwas nicht. Ihm war vermutlich nicht ganz klar, was nicht stimmt, aber ihm war klar, daß etwas nicht stimmt.

ZAG
Würden Sie Walser soweit entlasten, daß sein einziges Interesse ein Medieninteresse war?

Detlev Claussen
Ihn entlasten? Das ist eine ganz falsche Einschätzung! Ich finde das überhaupt nicht entlastend! Ich finde das grauenhaft, total unverantwortlich was er macht. Das ist doch das Schlimme. Viele schlimme Dinge geschehen aus Wichtigtuerei und Narzißmus. Ich finde das keineswegs entlastend. Sein Kalkül ist: Ich möchte im Mittelpunkt stehen! Ich möchte Scheinwerfer auf mich haben. Ich möchte Interviews haben. Auch dieses Gezauber mit den Briefen war nur eine ganz lächerliche Performance, die ihm aber eine Aufmerksamkeit gesichert hat, die er mit seinen Büchern überhaupt nicht mehr erreicht. Das ist der Erfolg dabei, aber das ist nicht entlastend, sondern das ist eigentlich gerade schlimm, mit was der überhaupt spielt. Das hat bei ihm immer diese ekelhaften Seiten, nur hat sich vor 15 Jahren, als er in Habermas Stichworteband 'Zur geistigen Situation der Zeit' mit einer ganz antisemitischen Attacke auf Horkheimer und Adorno in Erscheinung getreten ist, kein Mensch darüber aufgeregt. Walsers nationaler Durchmarsch begann schon in den 80er Jahren vor der Wende. Da kam auch schon diese absurde Äußerung mit: "... 'mal nach Dresden ins Theater gehen". Also so schwierig war das wirklich nicht, wenn ihm das wirklich so viel Wert gewesen wäre. Ihm war natürlich etwas ganz anderes wichtig: diese Aufmerksamkeit, die er literarisch nicht mehr erreichen konnte - auch auf diese Art des Pseudotabubruchs.

Die Debatte ist eng mit einer offensiv vorgetragenen Forderung nach einer 'normalen Nation' verbunden, mit der Anerkennung des deutschen Nationalismus als 'gesund' wie bei anderen Nationen auch. Ignatz Bubis legte viel Wert darauf, daß die Bundesrepublik normal ist, die deutsche Geschichte dagegen allerdings keineswegs. Lea Rosh dagegen brachte in der FR die Debatte auf den Nenner: Nun sind die Juden endgültig wieder 'die Anderen' - und bestreitet die 'deutsche Normalität', weil in der Regel die falschen Schlußfolgerungen aus der Geschichte gezogen würden. Sie zitiert dabei Tilman Fichters Bemerkung über die 'Flakhelfergeneration', die davon träumt: "... sich politisch nicht mehr ducken zu müssen ... Das geht nicht mehr. Das ist jetzt zu Ende. Wir sind ein normales Volk ..."

ZAG
Was für eine 'Normalität' wird versucht von Leuten wie Walser, Dohnanyi und Augstein, mit dieser Debatte herzustellen?

Detlev Claussen
Das weiß ich auch nicht, was die unter 'Normalität' verstehen. Ich denke, das sind im Grunde genommen auch rhetorische Figuren, die benutzt werden, um andere Ziele zu erreichen. Wer kann schon sagen: das ist alles unnormal. Das ist nur die Suche nach Zustimmung. Nur die Leute, die auf etwas aufmerksam machen wollen werden in die falsche Ecke gestellt. Das ist das Merkwürdige, man muß doch auf der einen Seite konstatieren, daß in der deutschen Geschichte etwas Besonderes ist. Und wenn in der deutschen Geschichte etwas Besonderes ist, dann ist auch in der deutschen Gegenwart etwas Besonderes, sonst kann man Geschichte im Museum verschließen oder sonstwo. Wir bauen doch aber Museen, weil sie etwas mit der Gegenwart zu tun haben. Es ist doch eine ganz falsche Auffassung, daß in der Geschichte etwas war und das ist jetzt vorbei. Denken sie nur an die für einen Historiker doch recht merkwürdige Überschrift, die Nolte damals seinem Aufsatz gegeben hat: "Vergangenheit, die nicht vergehen will". Was quälen sich doch immer die Historiker, das Publikum von heute für die Vergangenheit zu interessieren, damit es merkt, daß die Vergangenheit doch präsent ist, präsenter als man meistens denkt.

Hier geschieht das Absurde. Man verleugnet eigentlich ein Stück Gegenwart, ein Stück Gegenwart in dem Deutschland nun einmal ist, auch nach den Veränderungen, die in den letzten 10 Jahren stattgefunden haben. Hier gibt es Leute aus der älteren Generation, meinetwegen der Flakhelfergeneration, die etwas zusammenschließen wollen, was aber nun auch ein sehr merkwürdiges Begehren ist. Als ob sie sich immer so verstellt haben. Es trifft den Sachverhalt überhaupt nicht. Man muß an dieser Debatte der Normalität ernst nehmen, daß man sich sehr wenig darüber im Klaren ist, in welchem Land man eigentlich lebt, was aus diesem Land werden soll, wie man in diesem Land politisch arbeitet. Daher kommt diese Unsicherheit, die man mit diesem Normalitätsgeschrei zu übertünchen versucht.

ZAG
Eine weitere Debatte, in der es ständig um 'Normalität' geht, ist die Debatte über das Holocaustdenkmal in Berlin. 'Normalität' hat hier vor allem den Hintergrund, unangenehme historische Tatsachen möglichst auszublenden oder so leicht verdaulich wie möglich zu machen. Die rot-grüne Regierung unter Schröder vertritt eine 'Unbefangenheit' im Umgang mit der deutschen Geschichte und ein Denkmal zu dem die Menschen 'gerne' gehen. Wie ist das zu verstehen?

Detlev Claussen
Da denkt man doch schon mehr an die Sedan-Säule, das paßt in diesen ganzen Möchtegern-Wilhelminismuskomplex. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen. Ich glaube, das war ein richtiger medialer Fauxpas, da hat er nicht gewußt was er sagt.

ZAG
Heißt 'Normalität', die Opfer der eigenen Geschichte zu verdrängen? Wäre es nicht wesentlich 'normaler' die Opfer zu betrauern? In jedem Ort stehen Gefallenendenkmäler, das ist 'normal' ...

Detlev Claussen
Finden Sie? Ich lehne diese Denkmäler ab. Ich finde es auch nicht einsehbar, daß eines der wichtigsten Bauwerke in Norddeutschland Hindenburgdamm heißen muß. Deswegen kann man auch in keiner Weise sagen, daß dies mit der Durchforschung und Überlegung, geschweige denn der 'political correctness', das dominierende Element ist. Das gehört nicht zur Geschichte der Bundesrepublik. Viele Sachen sind gedankenlos weitergemacht worden.

ZAG
Bedeuten die Gefallenendenkmäler mit diesem Opfermythos, der dahinter steht, nicht vielmehr eine Tabuisierung der Geschichte, die durch diejenigen, die sich doch als Tabubrecher verstehen auch versucht wird? Warum diese Identifikation mit den Tätern und deren Uminterpretation in Opfer, mit dem Versuch, die Perspektive 'Wir sind alle Opfer' einzunehmen?

Detlev Claussen
Diese Gleichmacherei war eigentlich die Diskussion um die 'Neue Wache'. Das ist das Schlimme und dazu haben damals nur wenige etwas gesagt. Diese 'Neue Wache' ist ein ganz schlimmes Ding. Das macht ja diesen ganzen Opfersegen, daß alle dort nebeneinander sind. Das ist genau dieser gleichmacherische Diskurs. So etwas zu diskutieren, das setzt eine ganze Menge Mut voraus. Nämlich zu diskutieren: Was ist nun eigentlich mit diesen ganzen Kriegerdenkmälern? Das ist eine komplizierte Geschichte, die noch komplexer als die Geschichte mit den Tätern und Opfern ist, die es sehr leicht ermöglicht in diese Opferrolle hineinzuschleichen. Die Verhältnisse sollte man auch in dieser ganzen Komplexität darstellen, das wäre eine Herausforderung. Da kann man nicht einfach ein eisernes Kreuz machen und dann 1914-18 und 1939-45 reinschreiben und 'Unseren Gefallenen' oder soetwas. Das würde etwas voraussetzen und auch politisch abverlangen, wenn man sich fragt: Was für ein Denkmal setzen wir da überhaupt hin? Diese Auseinandersetzung gab es in der Weimarer Republik um Kriegerdenkmäler, die ganz heiß umstritten und umkämpft waren. Das ist eine intellektuelle, politische und künstlerische Herausforderung. Wenn man diese Dinger betrachtet, sind sie doch in einer Betonästhetik, die martialisch ist. Diese Auseinandersetzung ist zu schwierig, löst zu viel aus, das hat man an der Wehrmachtsausstellung gesehen: Aus. Wollen wir nicht - diese Diskussion. Auch da ist wieder populistisch mit Emotionen gespielt worden, statt an die Sache wirklich ranzugehen.

Wenn man sich zum Beispiel sagt, in der 'Neuen Wache' soll so eine Gedenkgeschichte entstehen, dann ist das eine Sache derjenigen, die darüber zu entscheiden haben, das ist eine politische Entscheidung und die muß man auch politisch treffen. Da kann man nicht hergehen und sagen: 'Wir fragen immer alle anderen' oder 'Wir klopfen die weich'. Da ist ja eben eine gewisse Dynamik, man kann doch nicht immer die Entscheidung delegieren und z.B. sagen, daß der Zentralrat der Juden sein Placet gegeben hat, da muß man auch die Verantwortung übernehmen. Meine These ist, daß es die Unklarheit über die Rolle Deutschlands heute ist, die da eine ganz entscheidende Rolle spielt. Und das wirbelt immer einen ungeheuren Schlamm auf und dann gibt es immer die große Koalition. Die große Koalition in der das Schreckliche das Furchtbare jagt.

ZAG
Sie stellten fest, daß ein Hauptziel der Debatte die Intellektuellen sind. Aber gerade viele, die sich den Intellektuellen zurechnen, haben die Rede mit stehenden Ovationen bedacht oder gehörten zu den Applaudierenden in der Duisburger Universität einen Monat später. Wie ist das zu verstehen?

Detlev Claussen
Der Antiintellektualismus hat leider eine große Tradition und das auch bei Leuten die von ihrer geistigen Arbeitskraft leben. Intellektuelle ist hier auch eine Konstruktion, die in diesen Komplex gehört. Antiintellektualismus und Antisemitismus, das ist sehr nah beieinander.

ZAG
Dazu gehören paranoide Verschwörungstheorien und wesentliche Kernbestandteile des Faschismus sind zusammen. Sind die neuen Nationalen wie Augstein, Walser und Konsorten Wegbereiter des Faschismus?

Detlev Claussen
Da wäre ich vorsichtig. Sagen wir mal so: Der Faschismus ist ein sehr starker politischer Begriff für das Ganze. Dieses sind ja Elemente des Alltagslebens, die Tradition haben. Sie finden Antisemitismus im Alltagsleben, sie finden Antiintellektualismus im Alltagsleben usw. Der Faschismus ist eine politische Kraft, die so etwas bündelt und zu einer politischen Macht macht. Das kann man unter diesen Voraussetzungen gar nicht sagen, aber das, was ich kritisieren würde und was die Sache so gefährlich macht, ist daß mit diesen Elementen des Alltagslebens gespielt wird und sich diese Leute überhaupt keine Gedanken darüber machen, was am Schluß dabei herauskommt. Hier werden Stimmungen erzeugt und das ist sehr gefährlich.

ZAG
Ein Effekt der Walserdebatte ist, daß 'Die Juden' wieder als klar ausgegrenzter Teil definiert worden sind. Was ist der Zweck solcher rassistischer Ausgrenzungen?

Detlev Claussen
Ich weiß es nicht. Auf der anderen Seite haben sie immer diese Akrobatik: 'nichtjüdische Deutsche, jüdische Deutsche'. Das hängt damit zusammen, daß man irgendwie auf die sichere Seite gelangen möchte. Das ist denen überhaupt nicht aufgefallen, daß sie so etwas konstruieren. Deswegen kommt dann auch so ein Dohnanyi, der auf keinen Fall des Antisemitismus bezichtigt werden will, aber er will eben seine eigene Geschichte besser darstellen, als sie ist und das macht ihn so empfänglich dafür, mit solchen Elementen zu spielen.

Dieser Wahn zu unterscheiden, das ist eigentlich das Problem, das verheerende Folgen, verhängnisvolle Folgen hat. Das ist denen überhaupt nicht klar, daß man jetzt wieder diskutiert: 'Jüdische Deutsche - Nichtjüdische Deutsche'. Und das steckt auch in dieser völlig mißglückten Diskussion um die Staatsbürgerrechte, daß man sich überhaupt nicht über die Anforderungen der Gegenwart klar werden will. Man bezieht sich im ganzen Diskurs auf Vergangenheit. Diese Vergangenheiten scheinen etwas zu sein, das sich jeder selbst zurechtinterpretieren kann. Das ist etwas sehr gefährliches, was leider auch in den linken Diskurs hineingeht, weil dort auch häufig die Vergangenheit legitimatorisch zurechtgebogen wird, um Argumenten in der Gegenwart ein stärkeres Gewicht zu verleihen. Deswegen ist der fragwürdige Umgang mit der Vergangenheit ein allgemeiner und keine Spezialität von Rechts oder Links.

ZAG
Rassistische Diskurse sind in der Regel doch eher rechts zuzuordnen. Das Dispositiv des Neorassismus beruht in einer konsumistischen Vereinnahmung des Anderen - einer Lifestylehybridität, die einerseits auf Macht und Unterdrückung basiert - die 'dem Anderen' seine Position zuweist, aber andererseits auf der Repräsentationsebene Raum läßt. Ist die Rolle der jüdischen Deutschen ähnlich zu sehen? Also die Zuordnung einerseits als Bereicherung auf der Repräsentationsebene nach dem Motto: 'Wenn selbst die Opfer versöhnt sind, kann das Verbrechen nicht so schlimm gewesen sein.' Aber auf der anderen Seite die Drohung: 'Wenn die Opfer sich "anmaßen, ... Vorwürfe machen zu dürfen" (wie im Spiegel in einem Leserbrief zu lesen war) brauchen sie sich nicht zu wundern, daß diese 'unversöhnlichen Juden' den Antisemitismus selbst produzieren.'

Detlev Claussen
Das sollte man nicht allzusehr 'à la lettre' nehmen. Es ist steinalt zu sagen: 'Der Antisemitismus liegt am Verhalten der Juden'. Man ist ja schon im antisemitischen Karren, wenn man anfängt im Verhalten der Juden zu suchen. Das ist die antisemitische Figur 'par excellence', die schon zum 19. Jahrhundert, zum modernen Antisemitismus gehört. Das ist aber nicht der Punkt, sondern daß aus der Gesellschaft selbst Unterscheidungs- und Diskriminierungsbedürfnisse produziert werden. Das ist das, was man bekämpfen muß.

ZAG
Sehen sie in der Ausgrenzung des 'Anderen' in der Bundesrepublik eine Veränderung oder Entwicklung, gibt es eine neue Qualität oder war diese Ausgrenzung immer eine Grundlage der Gesellschaft der Bundesrepublik?

Detlev Claussen
Eine Veränderung ist, daß es nach '89 eine reale gesellschaftliche Veränderung gegeben hat und das Selbstbild der Bundesrepublik dem überhaupt nicht angemessen ist. Wenn das Selbstbild unrealistisch ist, werden um so stärker Bedürfnisse nach Abgrenzung, nach vermeintlichen Sicherheiten geschürt. Das Nachdenken darüber, was Deutschland ist - Deutschland in Europa - das ist nicht sehr weit verbreitet und da ist es sehr schön, wenn man andere hat, gegen die man sich abgrenzen kann.

ZAG
Wo sind die Verbindungen zu anderen öffentlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, wie dem Historikerstreit oder der Goldhagendebatte? Ist die Walserdebatte eine Fortsetzung?

Detlev Claussen
Ja, ich würde schon sagen, daß die Walserdebatte eine Fortsetzung ist. Das Schreckliche an der Walserdebatte ist der Verbrauch der Argumente. Der Gegenstand wird aus dem Auge verloren innerhalb einer großen Medienshow. Das stumpft total ab!

ZAG
Welche Konsequenz hat diese Abstumpfung?

Detlev Claussen
Abstumpfung hat die Konsequenz, daß ein Vakuum entsteht und Vakua werden gefüllt. Seltenst mit etwas Besserem.

ZAG
Sind die in den letzten Debatten immer offensiver vertretenen Positionen mit dem aus der kritischen Theorie der 50er stammenden Begriff 'sekundärer Antisemitismus' faßbar?

Detlev Claussen
Nach 1945 hat zuerst einmal eine Leerstelle eingesetzt. Da war keine Erinnerung, da war gar nichts. Das was an diese Leerstelle gesetzt worden ist, das ist das, was ich den 'Artefacto loco' nenne. Das ist eine massenmedial bearbeitete Form von Vergangenheit, eine verzerrte Form von Vergangenheit. Diese verzerrte Form von Vergangenheit hat den Vorteil, zu dem was vorher an die Stelle hätte treten können, daß leichter darüber zu sprechen ist, leichter darüber zu kommunizieren ist. Das hat dann Folge für Folge damit eingesetzt: Historikerstreit, Goldhagen, Walser usw. Es ist leicht darüber zu reden. Aber man redet im Grunde genommen über ein Medienphänomen, man redet nicht über einen wirklichen Sachverhalt, man redet über die Folge der Folge, und das ist dieser Artefact. Es wird überhaupt nicht über den Kern diskutiert, deswegen geht das den Leuten auch so leicht über die Lippen.

ZAG
Wollte auch Nolte nicht die geschichtlichen Tatsachen in irgendeiner Form aufarbeiten, sondern vor allem den Medienhype?

Detlev Claussen
Ja, und die Darstellungsmacht! Der Anfang von Walser ist absolut typisch und gilt für die anderen auch: 'Wie wirkt das auf mich, wenn ich im Fernsehen so etwas sehe.' Bei Nolte ist es: 'Wie kommt es, daß die Nazis so eine schlechte Nachgeschichte haben und der Kommunismus so eine gute.' Das ist eine Konstruktion. Es geht nicht um den Sachverhalt, sondern es geht darum herauszudestillieren: 'Wie fühle ich mich damit.' Deswegen gibt es auch diese endlosen Diskussionen, in denen nur für wenige etwas Neues entdeckt wird. Aber das Thema wird richtig verbraucht. Der Artefakt Holocaust hat es geschafft, Auschwitz zu einem Öffentlichkeitsthema zu machen, einfach ein Thema, ein Thema wie andere auch.

ZAG
Ist das nicht gerade ein Ziel dieser Debatten?

Detlev Claussen
Aber daran arbeiten alle mit. Das sind ja nicht nur die Rechten. Das ist ja auch meine Kritik an diesem Phänomen, das sich in den letzten 20 Jahren hergestellt hat. Über den Artefakt habe ich viel geschrieben. Der macht eben diese Normalisierung aus. Da setzt tatsächlich eine Normalisierung ein. Und Normalisierung heißt, daß die Sensorien stumpf sind. Daran haben von rechts bis links unheimlich viele mitgearbeitet, die sich nicht klargemacht haben, was das für Folgen hat. Man sieht das bei Goldhagen. Das besteht nicht nur aus dem Angriff, sondern auch aus der Verteidigung. Das macht ja auch die Kaputtheit, das Aporetische dieser Debatte aus. Da wurde nicht um den Sachverhalt, sondern um die Rezeption des Sachverhalts gestritten.

Wenn man die wissenschaftliche oder theoretische Arbeit von Goldhagen kritisiert hat, hatte man völlig falsche Kameraden neben sich stehen. Aber auf der anderen Seite kann man es auch nicht nicht-kritisieren. Da geschieht etwas und das ist ein gesellschaftliches Phänomen. Es ist mehr als der Kampf von rechts und links. Dem muß man Gesellschaftskritik entgegensetzen. Das Schreckliche an dieser Debatte ist die Folge, daß die Argumentationen völlig ethnisiert worden sind. So kann man doch nicht mehr argumentieren und das ist in der Goldhagendebatte zum Durchbruch gekommen. Und das kommt nicht nur darauf an, wer angefangen hat, sondern auch aufs Mitmachen. Es sind auch die Verteidiger, die das mitgemacht haben. Diese Diskussionen sind verheerend. Der Historikerstreit war verheerend, Goldhagen war verheerend, Walser ist verheerend. Das sind grauenhafte Debatten, die grauenhafte Folgen haben: Intellektuell und politisch verheerend.

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