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Die Konstruktion des Zigeuners

Die gesellschaftliche Veränderung des Zigeunerklischees vom sozialen Stereotyp zur Ethnizität ist der Spiegel der Diskriminierungsgeschichte. Parallel zu den Umwälzungen während der Krise des Feudalismus und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft verlief die Stigmatisierung und Instrumentalisierung der Zigeuner als ideologische Konstruktion. Sie sind Opfer des herrschaftlich bestimmten Prozesses der Ausgrenzung, sie verweigern sich der bürgerlichen Existenz schon allein durch ihre fehlende Seßhaftigkeit, die sie auch nach den sozialökonomischen Umwälzungen Anfang des 15. Jahrhunderts beibehielten. Damals entstand ein vielschichtiges Vagantentum. Für den wachsenden Bedarf an disziplinierten Arbeitskräften war die Existenz von Vaganten ein Ärgernis.

Der Zigeunerbegriff hat sich schon früh als Mittel der Disziplinierung und Diskriminierung angeboten. Die Konstrukteure des Zigeunerstereotyps interessieren sich selbstverständlich bei der »kategorialen Verschmelzung bettelnder und vagierender Bevölkerungsschichten mit einem ehedem aus legendärer Ferne zugewanderten Volk (...) wenig für dessen Geschichte und Verfassung« (S. 22). Durch die Stigmatisierung des Stereotyps Zigeuner zum >vaterlandslosen Müßiggänger< sollten nicht Fremde abgewehrt werden, sondern die Lebensweise derer ausgegrenzt werden, die das bürgerliche Arbeitsethos nicht übernehmen konnten oder wollten.

Bevor die Aufklärung einen wissenschaftlichen Begriff der Rasse entwickelte, sind bei dem Stereotyp Zigeuner die Grundzüge rassistischer Argumentation erkennbar. Es wird schon sehr bald von einer >wesensmäßigen Differenz zwischen Menschen< ausgegangen, die ihren aktuellen Höhepunkt in der Hypothese des »Zigeuner-Gens« fand. Diese Hypothese geht davon aus, daß innerhalb des Zivilisationsprozesses Reste primitiver Stämme überlebten, die aufgrund eines »Asozialen-Gens« nicht in der Lage waren, die Entwicklung nachzuvollziehen. Dadurch sei es den indischen Zigeunern möglich gewesen, überall auf genetisch verwandte zigeunerische Menschen zu treffen und sich fortzupflanzen, ohne ihre primitive Lebensweise aufgeben zu müssen. Die Natur des Zigeuners werde durch ein erbliches Merkmal bestimmt, das jede Person unabhängig vom >äußerlich rassischen Typus< aufweisen könne.

Damit ist der Zigeunerbegriff zur flexiblen und universellen Keule gegen die Opfer der sozialen Entwicklung geworden. Aufgrund >genetisch bedingter Asozialität< besteht keine Notwendigkeit, sich mit den Folgen gesellschaftlicher Entwicklung und ihren Ausgrenzungsprozessen auseinanderzusetzen. Die rassistische Kategorie Zigeuner ist beispielhaft für die gesellschaftliche Funktion diskriminierter Gruppen als Antipol und Feindbild zur Durchsetzung herrschaftlicher Interessen.

Das Buch zeichnet die Entwicklung dieser ideologischen Konstruktion nach. Es untersucht die Entwicklung der rassistischen Ethik und die Bedeutung des Kapitalismus in diesem Prozeß. Analysiert wird auch die Entwicklung des Begriffs Zigeuner in den Enzyklopädien und Lexika, das Zigeunerbild der Aufklärung, die künstlerische Verarbeitung dieses Stereotyps in >Carmen<, - der Zigeunerbegriff der Polizei, sowie - Robert Ritters Zigeunerforschung als Rassenhygiene. Präzise wird die auch heute nach wie vor beliebte Schuldzuweisung untersucht, die Opfer für ihre Situation als die wahren Verursacher selbst verantwortlich zu machen und damit die perfekte Legitimierung für ihre Ausgrenzung zu liefern. Die alte und neue Devise heißt: Die Opfer sind die Täter.

Tobias Faßmeyer, ZAG-Redaktion

Wulf D. Hund (Hg.): Zigeuner: Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, Duisburg 1996, 153 S., 18 DM

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