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»Mordende Marionetten«

Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes und Verschwörungstheorien

Yunus Özak

Vieles deutet darauf hin, dass die These von den drei Einzeltäter*innen des NSU, die über Jahre hinweg unerkannt durch Deutschland zogen und Migrant*innen töteten, so nicht stimmen kann. Eine unglaubliche Anhäufung an Pannen auf Seiten der Staatsorgane, insbesondere des Verfassungsschutzes und der Polizei; ein Unterstützer*innennetzwerk, dessen Mitglieder zum Teil eine Tatwaffe und Sprengstoff besorgt haben sollen, jedoch von deren möglichen Zweck nichts gewusst haben wollen; weitere Ungereimtheiten, die bis heute nur Fragezeichen hinterlassen: Die Sachlage lässt viele Menschen skeptisch werden.

Doch wer diese Zweifel äußert wird nicht selten als Verschwörungstheoretiker*in bezeichnet und seine/ihre Argumente damit abgetan. Ein Vorwurf, der schmerzt. So ist das Bild des/r klassischen Verschwörungstheoretiker*in doch eher das eines Menschen, der seine Informationen von KenFM und aus dem Compact Magazin bekommt und wirre, antisemitische Dinge über den 11. September und eine jüdische/zionistische Weltverschwörung unter Facebook-Kommentare und Youtube-Videos schreibt, kurzum: ein Mensch, mit dem man nichts zu tun haben und nicht in einen Topf geworfen werden will.

Viel Phantasie

Auf den ersten Blick lässt sich der NSU-Komplex mit viel Phantasie jedoch tatsächlich wie der klassische Plot einer Verschwörungstheorie interpretieren: Staatsorgane, insbesondere Geheimdienste wie der Verfassungsschutz, schützen und/oder unterstützen eine konspirative Terrorbande, die Menschen tötet um Angst unter Migrant*innen zu schüren und um einen geheimen Plan zum Umsturz der Gesellschaft hin zu einem nationalsozialistischen Regime zu verwirklichen. Selbst der Abschlussbericht des Thüringer Landtags schließt »bewusstes Hintertreiben« seitens staatlicher Behörden nicht aus.1

Auch bei Veranstaltungen zum NSU-Komplex kommt es regelmäßig zu Wortmeldungen aus dem Publikum, die nach den »wahren Hintermännern‘ fragen. Selbst wenn Referierende einen ganzen Vortrag lang über Rassismus in der extremen Rechten, den Behörden und in der ganzen Gesellschaft sprechen, drehen sich die ersten Wortmeldungen dann doch oft um Gladio, Stay-Behind-Armeen und »tiefen Staat«. Hierin zeigt sich auch der Unterhaltungswert, der von Verschwörungstheorien ausgeht: Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und Verstrickungen staatlicher Behörden scheinen für viele anregender zu sein, als die Thematisierung und Analyse von gesellschaftlich verbreitetem Rassismus.

So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich auch handfeste Verschwörungstheoretiker*innen von dem NSU-Komplex angezogen fühlen. Neben den sonst üblichen Blogs und Internetforen, die wie so oft den Mossad und/oder die CIA hinter allem sehen, sei hier zuerst auf Wolf Wetzel als Beispiel verwiesen: Wetzel war in den 1980ern und 1990ern Mitglied der linksautonomen lupus-Gruppe und war bis 2007 Mitglied in der Frankfurter Anti-Nazi-Koordination. Auf der verschwörungstheoretischen Internetseite KENfm.de stellte er sein Buch »Der NSU-VS-Komplex« im Interview mit Ken Jebsen vor. In dem Buch grenzt er sich zwar bewusst von Verschwörungstheorien ab, die hinter dem NSU eine »geheimnisvolle Macht« vermuten und erklärt, dass niemand in eine »Glaskugel« schauen könne, sondern auf Basis der vorliegenden Fakten zu entscheiden sei, welche Version wahrscheinlicher als die Einzeltäter*innentheorie sei. Gleichzeitig ist er aber im Gespräch mit Jebsen mit diesem einig, die NSU-Morde seien über 13 Jahre »von oben« koordiniert2 worden, und schreibt darüber hinaus, der bei einer Hausdurchsuchung gefundene Sprengstoff »sollte gefunden werden.«3 Wer dies veranlasst haben soll, lässt er in seiner typischen Manier offen.

Auch der in den 1990er Jahren mit einigen verschwörungstheoretischen Büchern über Freimaurer und andere »Geheimgesellschaften« sehr erfolgreiche, unter dem Pseudonym Jan van Helsing schreibende, Jan Udo Holey veröffentlichte als Herausgeber ein Buch über den NSU. Der Untertitel »Was die Öffentlichkeit nicht wissen soll…«4 und die Erwähnung amerikanischer Agenten im Klappentext deuten darauf hin, dass sich Holey nicht von dem rechtsesoterischen Milieu verabschiedet hat.

Eine weitaus größere Bekanntheit erreichte der Bestseller »Die Schützende Hand«5 von Wolfgang Schorlau. In dieser »Dokufiktion«, wie sie der Autor nennt, vermischen sich tatsächliche Ereignisse und Personen mit Vermutungen, für die es zwar keine Beweise gibt, die aber um so besser ins Weltbild des Autors passen. So sind es am Ende des Buches wieder die altbekannten ausländischen Mächte, die für die NSU-Morde verantwortlich sind.6

Die Liste mit Verschwörungstheorien zum NSU ließe sich beliebig fortsetzen. Das Spektrum der Menschen, die ihnen anhängen, reicht von sich als links Verstehenden bis hin zu Neonazis, die daran glauben, ihre Kameraden Mundlos und Böhnhardt haben keinen Selbstmord begangen, sondern seien benutzt und dann ermordet worden. Andere Rechte glauben daran, der NSU sei komplett inszeniert worden um die rechte Szene zu diskreditieren. Hier erfüllen Verschwörungstheorien die Funktion, sich selbst wieder in eine Opferrolle zu begeben. Doch was ist problematisch an diesen Narrativen und wo verläuft die Grenze zwischen wirrer, oft antisemitischer Verschwörungstheorie und der kritischen Infragestellung öffentlicher Verlautbarungen zum NSU?

Lust an der Verschwörung

Eine einheitliche Definition, was denn eine Verschwörungstheorie genau sei, lässt sich nicht ausmachen: Der Diskurs um den Begriff rankt sich um viele Fragen, etwa ob Verschwörungstheorien im Gegensatz zu einer offiziellen Version stehen müssen oder nicht; ob eine Verschwörungstheorie unzutreffend sein muss oder ob Theorien, die sich später als wahr herausstellen sollten (die es in einigen sehr wenigen Fällen tatsächlich gab, Bsp. Celler Loch), immer noch Verschwörungstheorien bleiben; ob der Begriff Theorie überhaupt zutrifft oder ob Ideologie/Hypothese o.ä. nicht passender wäre; etc. Verschiedene Definitionen in der Fachliteratur, die versuchen Verschwörungstheorien in ein bis zwei Sätzen zu definieren, scheitern an den schier unzählbaren Arten ihrer Ausprägungen. Dies erschwert es, im Bereich des NSU angebrachte Kritik von Verschwörungsdenken zu trennen.

Was den meisten Verschwörungstheorien jedoch eigen ist, ist die Annahme einer übersteigerten zentralistischen Machtstruktur: Egal ob Illuminaten, Juden, Freimaurer oder Bilderberger – die Verschwörer*innen sind in der Ideologie der Verschwörungstheoretiker*innen nur eine kleine Minderheit (allzu oft auch in religiöser oder ethnischer Sicht), welche die Masse der Menschen aus den Hinterzimmern heraus kontrolliert, die ihnen, blind für die Wahrheit, folgt. Für den NSU Komplex bedeutet dies, dass die sogenannten Pannen bei den Ermittlungen nur von ganz oben herab befohlen und von einem Netz tausender willfähriger Helfer*innen im Staatsapparat hätten ausgeführt werden können, um die Wahrheit zu verschleiern.

Dass für viele Fehler in den Ermittlungen schlicht der Rassismus in den zuständigen Behörden verantwortlich gewesen sein kann, passt nicht in diese Logik: Bundesweit gingen die für die NSU-Morde zuständigen Ermittler*innen schnell von einem Motiv aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität oder des Drogenhandels aus. Die Verknüpfung von Türke/Kurde/Grieche und Organisierter Kriminalität war für sie so natürlich, dass es nicht einmal Hinweise in den Bereich gebraucht hat. Während also Angehörige der Opfer und migrantische zivilgesellschaftliche Initiativen auf ein mögliches rassistisches Motiv aufmerksam machten und 2006 unter dem Motto »Kein 10. Opfer« demonstrierten, suchten Polizei und Justiz weiter nach der ›Türken-Mafia‹.

Hier lässt sich also ein klarer Unterschied sehen: Während Verschwörungstheorien die Schuld bei einzelnen Vertreter*innen von dunklen Machenschaften suchen, hat eine kritische Infragestellung zur Aufgabe die gesellschaftlichen Ursachen, wie etwa den in Behörden und der gesamten Gesellschaft (der NSU gründete sich in einem Klima, in dem Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte und Migrant*innen zum Alltag gehörten) verbreiteten Rassismus, zu beleuchten. Es muss zudem festgehalten werden, dass Neonazistrukturen durchaus in der Lage sind, auch ohne die Unterstützung des Staates als Steigbügelhalter, Morde und Terroranschläge durchzuführen. Rechter Terror wie das Oktoberfestattentat, Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte oder fast 200 bekannte rechtsmotivierte Morde in den letzten 25 Jahren beweisen dies. Verschwörungstheorien, die allein oder primär das Wirken des Staatsapparats hinter den NSU-Morden sehen, verkennen damit auch die tatsächliche Gefahr, die von der rechten Szene ausgeht.

Nicht ohne Grund sind den NSU-Komplex betreffende Verschwörungstheorien so verbreitet. Die Schuld anonymen Mächten zuzuschieben oder sogar noch eine Fremdbestimmung Deutschlands von außen zu konstatieren, hält nicht nur das eigene Weltbild vieler Menschen aufrecht, es verspricht auch Entlastung: Missstände zu externalisieren und die Schuldigen außerhalb zu suchen, befreit von der Verantwortung, dagegen etwas zu tun. Da die Verantwortung für Taten bei wenigen, mächtigen Verschwörer*innen liege, bestehe auch keine Handlungsmöglichkeit diesen Zustand zu ändern. Die eigene Verantwortung, den Rassismus in der Gesellschaft zu thematisieren und die gerade besonders aktuelle rechte Mobilisierung zu bekämpfen, wird damit abgelegt.

Tatsachen und offene Fragen

Doch auch die Erkenntnis, dass rassistische Stereotypen die Ermittler*innen davon abhielten in der Mordserie in die richtige Richtung zu ermitteln, kann nicht alle offenen Fragen zu dem Morden des NSU beantworten. Die Existenz einer Reihe von V-Leuten im Umfeld des NSU, die genaue Rolle des Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat in Kassel, die mehrfache Vernichtung relevanter Akten: All dies kann mit dem strukturellen bis offenen, personellen Rassismus seitens der Ermittlungsbehörden alleine nicht erklärt werden. Doch wie kann und muss nun eine Aufarbeitung der sogenannten Pannen aussehen, ohne sich dabei in Verschwörungsdenken zu verrennen?

Letzten Endes kann es einer an der tatsächlichen Aufklärung des NSU Komplexes orientierten Arbeit nur darum gehen, was auch Wolf Wetzel in Ansätzen als seinen Anspruch beschreibt (an dem er jedoch gleich darauf gnadenlos scheitert): Das Festhalten von Tatsachen einerseits und von Leerstellen bisher ungeklärter Zusammenhänge andererseits, eingebettet in eine kritische Gesellschaftsanalyse, die das Wirken und die Einstellungen von Individuen in den Kontext von in der Gesellschaft verbreiteten Ansichten setzt. Aufgrund dessen muss die Darstellung der Einzeltäter*innentheorie, wie sie etwa im Münchener Prozess vertreten wird, rund um die Morde des NSU kritisch hinterfragt und bei Bedarf angezweifelt werden, ohne gleich von einer alternativen Erklärung überzeugt zu sein, für die es keine Beweise gibt.

Dass auch mal Spekulationen angestellt werden, ist vielleicht auf Grund der Umstände verständlich. Jedoch müssen diese Spekulationen auch immer selbstkritisch hinterfragt werden. Hierfür bedarf es inhaltlichen Abstands zu mit Ressentiment aufgeladenen Verschwörungstheoretiker*innen einerseits, die mit genau diesen unbewiesenen Erklärungen auftreten, sowie zu staatsgläubigen Ideolog*innen andererseits, die es für unmöglich halten, dass deutsche Geheimdienstbeamt*innen nicht die Wahrheit erzählen.

Fußnoten:

1 Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsauschusses des Thüringer Landtags, S.1582

3 Wetzel, Wolf: Der NSU-VS-Komplex, Unrast, 2013, S.31

4 Schulze, Jan: NSU – Was die Öffentlichkeit nicht wissen soll, Amadeus-Verlag, 2013

5 Schorlau, Wolfgang: Die Schützende Hand – Denglers achter Fall, Kiepenheuer & Witsch 2015

6 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Schorlaus Buch findet sich auf: http://www.nsu-watch.info/2016/02/kollateralschaeden-der-weltpolitik-rezension


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