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Rechts(d)ruck:
»Hellersdorf« und die Folgen

ZAG

Im Sommerloch des Jahres 1991 produzierten die Redaktionen etablierter Medienunternehmen mit ihren Publikationen das BILD eines potenziellen Ansturms von Geflüchteten, vor dem Europa und vor allem Deutschland stünde. In damals bereits typischer, bei genauerem Hinsehen aber recht eigentümlicher Weise bemächtigte man sich des Schicksals von Geflüchteten, um es gegen sie zu wenden. Übervolle Flüchtlingsboote, die mit Beginn des Jahres 1991 aus Albanien kommend an der italienischen Küste anlegten, fanden sich im politischen Sprachgebrauch in Deutschland in einer Metaphorik vom Staat als das eigentlich übervolle Boot wieder. Eindrücklichstes Beispiel dafür lieferte die erschütternde Photografie eines mit über 10.000 Flüchtenden aus Albanien völlig überladenen Frachters, der am 8. August 1991 in Bari anlegte.

Einen Monat später betitelte »Der Spiegel« in seiner Ausgabe vom 9. September 1991 die Illustration einer übervollen und zugleich bestürmten Arche BRD, die mit ihren schwarz-rot-goldenen hohen, steilen Bordwänden an einen Frachter erinnerte, mit »Ansturm der Armen«. Entlehnt war diese Kopplung von Flucht mit Ansturm einer mit »Das Boot ist voll!« überschriebenen Wahlwerbung der Republikaner vom Juni desselben Jahres.

Die rechten Rechtsaußen der CSU boten die scheinbar wirksamste Munition, indem eine im Grundrecht verankerte Lehre aus dem Nationalsozialismus endgültig ins Trommelfeuer der Meinungsbildung genommen wurde: das Grundrecht auf Asyl.

Mobilisiert hatte diese Agitation in Politik und Medien einen gänzlich anderen Sturm, der in dieser Form bis dahin kaum für möglich gehalten wurde. Er sollte zu einer Zäsur in der bundesrepublikanischen Geschichte werden. In der Ausgabe 62 blickte die ZAG auf die Kämpfe gegen diesen Sturm zurück. Seinen Anfang nahm er rückblickend, als am 17. September 1991 Neonazis auf dem Marktplatz von Hoyerswerda vietnamesische Händler angriffen. Es war der Auftakt für rassistische Ausschreitungen und Übergriffe, die in ihrer Dimension an die Zeit des Nationalsozialismus erinnerten: Menschen die unter Applaus und vor Fernsehkameras bei zeitweiser Abwesenheit der Exekutive Geflüchtete und Vertragsarbeiter_innen kollektiv angriffen. Vor allem die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen sollten dafür ein Jahr später traurige Berühmtheit erlangen.

Auch hier wurden die Ereignisse politisch gegen die Betroffenen gewendet. Eingebettet in die haarsträubend kurzgeschlossene Folgerung, dass Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft der Zuwanderung entspringe, setzten sich die rassistischen Ausschreitungen und Übergriffe 1993 als politisches Druckmittel und Begründung durch. Es brauchte die SPD und FDP für eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundgesetzes, um das Grundrecht auf Asyl faktisch auszuhebeln. Ein rechtlich verankertes Bollwerk gegen den Faschismus war ganz demokratisch parlamentarisch zu Fall gebracht worden.

Im Jahr 2013 holten die Angriffe und Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Berlin-Hellersdorf, Duisburg, Pätz, Schneeberg und an anderen Orten die Zeit zu Beginn der 1990er Jahre wieder ins Gedächtnis. Anders als vor zwanzig Jahren wurde in der Politik und den Medien mehrheitlich die von Neonazis geschürte Hetze gegen Wohnheime für Geflüchtete eilig verurteilt. Auf den etablierten Debattierbühnen der Meinungsdemokratie, in der Geflüchtete und Migrant_innen gar nicht oder nur moderat moderiert auftreten können, hat sich die Perspektive auf Flucht und Migration nach Deutschland indes nicht geändert. Migration wird vorrangig als Einwanderung oder Auswanderung zum Thema gemacht, als Mahnung, Menetekel oder Problem der Einwanderungsländer thematisiert. Die Probleme und Sichtweisen der geflüchteten Menschen bleiben ausgeblendet. Sichtbar wird dies beispielsweise an der zynischen Schiffsmetaphorik, die lediglich ihre grammatikalische Form geändert hat. Die Sorge um Europa und die Nation drückt sich nun nicht mehr im indirekten Imperativ »Das Boot ist voll!« aus. In zeitgemäß nüchterner Distanz einer beschreibenden Feststellung heißt es nun: »Die Boote sind voll«. Als Überschrift zu finden vor Artikeln zur europäischen Einwanderungspolitik von FAZ über Süddeutsche Zeitung bis zuletzt im Spiegel. Letzterer überschrieb in seiner Ausgabe vom 14.04.2014 mit diesem Titel einen Artikel zum Thema und ließ gegen Ende über die inhaltliche Perspektive keinen Zweifel mit der Frage: »Ist das Boot also voll?«. Und als wenn die Autor_innen dieses Artikels das Geschmäckle dieser Frage ahnen, lassen sie im gleichen Absatz Hamburgs Ersten Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) zugleich fragen: »[…] aber was passiert, wenn die Leute sagen, es reicht?«

Aus den Ereignissen um das Sonnenblumenhaus in Rostock Lichtenhagen war die Lehre der antirassistischen und antifaschistischen Linken damals, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass Staat und Polizei diesem Mob entgegentreten werden, »wenn die Leute sagen, es reicht«. Zudem wurde geschlussfolgert, dass Antirassismus nicht nur Bedeutung im Kampf gegen Nazis gewinne, sondern sich auch gegen die rassistische Politik der Mitte und der staatlichen Institutionen richten müsse, in denen sich Rassismus verkörpert und aktualisiert. Zugleich haben die Geflüchteten die gesellschaftspolitische Isolierung durchbrochen und selbst eine Welle der Mobilisierung und des öffentlichen Interesses für Flüchtlingspolitik entfacht.

Die Proteste gegen die Flüchtlingslager im Jahre 2013 zeigten nun aber ein nach wie vor jederzeit abrufbares rassistisches Stimmungspotenzial. Den antirassistischen Gegendemonstrationen wird von Kommunalpolitiker_innen vorgeworfen, sie würden die Stimmung für linksradikale Agitation ausnutzen wollen. Ihre Kritik am institutionellen Rassismus wird gar nicht erst gehört.
Gleichzeitig werden von und mit den etablierten Parteien sogenannte »Bürgerversammlungen« durchgeführt, welche den Nazis und dem Mob der Bürger_innen die Möglichkeit bieten, für ihre rassistischen Weltvorstellungen unter dem Motto »Mehr Demokratie« oder »Wir wurden ja nicht gefragt« zu werben. Dennoch waren die antirassistischen Mobilisierungen und Aktionen in Hamburg, Hellersdorf und Schneeberg erfolgreich.

Im Rahmen der Debatten um die jüngsten Ereignisse in Hellersdorf und Duisburg wurde gefordert, nach neuen antirassistischen Antworten zu suchen, um nicht bei der Auseinandersetzung um dezentrale Unterbringung einerseits und dem aktiven Schutz von Sammelunterkünften für Geflüchtete andererseits stehen zu bleiben. Braucht es so etwas wie eine radikale antirassistische »Realpolitik«?

Mit dieser Ausgabe wollen wir den gegenwärtigen politischen Antirassismus beleuchten. Wir wollen fragen, inwieweit die gegenwärtige Situation eine neue politische Qualität besitzt, vor der antirassistische Gruppen stehen. Was bedeuten die von Hass erfüllten Proteste für die in Sammellagern untergebrachten Menschen? Was sollten antirassistische Forderungen sein, welche Formen und Inhalte antirassistischer Politik erscheinen heute erfolgreich?

Quellenangabe:

Pagenstecher, Cord: »Das Boot ist voll« Schreckversion des vereinten Deutschland, in: Paul, Gerhard (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 2, 1949 bis heute.

»Die Boote sind voll: Seit Italien die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet, fliehen immer mehr Menschen nach Europa. Die Angst vor den Armen wird zum heiklen Thema im Wahlkampf«, in:»Der Spiegel«, Ausgabe 16 vom 14.04.2014 S. 32 – 34.

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