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Angewandter Alltagsrassismus

Gespräch mit Challa von K.O.Muzik61

Klaus Müller, ZAG

Die Eltern von Challa migrierten 1972 aus Kars, Türkei nach Deutschland; sein Vater ist Türke, seine Mutter Kurdin. Challa wurde 1981 geboren und wuchs mit seinen fünf Geschwistern in Kreuzberg auf. Obwohl in Berlin geboren, besitzt er keinen deutschen Pass. Seine Mutter ist heute 54, Hausfrau und sein Vater 64, Frührentner seit fünf Jahren; zuletzt arbeitete er bei Siemens als Staplerfahrer. Challa besuchte die Grund- und Hauptschule in Kreuzberg, die er in der 8. Klasse abbrechen musste, da er in Untersuchungshaft genommen wurde; nach drei Monaten wurde er wegen erwiesener Unschuld entlassen. In diesem Alter erste Kontakte zur Hip-Hop-Szene, mit 7 Breakdance, mit 11 Graffiti und mit 14 Rappen. Er machte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann und arbeitete in diesem Beruf, bis er 2001 wegen einer Gang-Auseinandersetzung zu 2 1⁄2 Jahren Haft wegen versuchten Totschlags verurteilt wurde. Im Knast wurde er zum Maler und Lackierer ausgebildet und arbeitete nach seiner Entlassung für ein Jahr in diesem Beruf bei der Gewerkschaft Verdi. Weitere Tätigkeiten: Staplerfahrer bei Siemens, Gärtner auf ABM-Basis, Werkputzer bei Mercedes, Koch im Bethanien für das Streetfootball-Projekt zur WM 2006. Heute ist er in der Jugendarbeit beschäftigt und gibt Rap- und Breakdance-Kurse.

ZAG:
Wie bist Du zum Hip-Hop gekommen?

Challa:
Durch Tupac Shakur.1 In der sechsten Klasse, beim Wechsel von Grund- zur Hauptschule habe ich ein Lied von ihm gehört, "Dear Mama", in dem er seiner Mutter dankte. Schon damals wurde mir klar, was meine Eltern durchmachen mussten, besonders meine Mutter, die sechs Kinder zu versorgen hatte, während mein Vater den ganzen Tag nicht da war, auf Arbeit sein musste. Dieses Lied hatte mich derart berührt, so dass ich diesen Typ studiert habe, mich mit seinem Leben befasste. Ich wollte damals sein Leben 1:1 übernehmen, Sachen für die Jugendarbeit aufbauen und so. Aber dann kam es, dass ich erst mal alles Negative von ihm übernommen habe, sich in der Gruppe einen Namen zu geben, sich Respekt zu verschaffen, und das habe ich dann auch ’ne ganze Zeit so gemacht. Zuerst waren wir nur ein Freundeskreis, der gemeinsam auf der Straße herumhing, aber dann kam immer öfter die Polizei, hielt uns grob an und fragte "Welche Gruppe seid ihr?" Erst nach vielen Kontrollen kamen wir auf den Gedanken, uns selber als Gruppe zu sehen und uns dadurch abzugrenzen. Zuerst nannten wir uns ironisch "Ghetto 2000" bevor dann der wirkliche Name "Crazy-Kick-Brothers" entstand.

Wir waren damals die "Crazy-Kick-Brothers" und haben uns regelmäßig mit anderen geschlagen. Wir benahmen uns asozial, weil alle genau dies von uns erwarteten. Die Gruppe bestand aus Einwandererkindern, die einfach nichts mehr zu tun hatten zu Hause, die wie ich den ganzen Tag auf der Straße rumhingen, weil sie zu Hause mit sechs oder sieben Personen in zwei bis drei Zimmern wohnen mussten und so waren wir den ganzen Tag draußen auf der Straße und hatten dort unsere Freunde, also unsere Familie.

Heute besteht die Gruppe nicht mehr, sie wurde auseinander gerissen. Viele gingen in den Knast, einer wurde von seinem Vater in die Türkei geschickt, die übrig gebliebenen haben immer mehr Musik gemacht, später haben K. D. Kane und ich ein eigenes Label gegründet: K.O.Muzik61 (Kreuzberg Original Music); und der Lebensstil der übrig gebliebenen ist heute "Knock-Out-Life-Fucking-Economy". Economy steht für uns für diese Gesellschaft, Rassismus und rassistische Politik, aber auch dafür, dass man trotzdem noch etwas machen kann. Ich mache heute Rap und meine Texte beschreiben das, was ich erlebt habe, ehrlich und ungeschönt, die Karten auf den Tisch gelegt. Alles was Scheiße gelaufen ist, aber auch, was man besser machen könnte.

ZAG:
Wo siehst Du die Hintergründe für die von Dir beschriebene Lebenssituation?

Challa:
Wir wurden schon als Kinder aussortiert auf eine Schule in Kreuzberg ohne Perspektive, immer nur schön im eigenen Saft. Man wurde immer nur intern vermittelt, Kreuzberg, Schöneberg, Tempelhof und das war’s. Ich habe nie eine Schule in Zehlendorf gesehen, oder einen Ausbildungsplatz in Charlottenburg bekommen. Die Strukturen, dass "Ausländer" unter sich bleiben sollen, hatten sich schon vor über 15 Jahren verfestigt, sie scheinen mir heute kaum noch auflösbar, denn die Leute, die uns immer wieder als "Ausländer" in diese Strukturen zurückschieben, sind so versteckt, die haben keine Glatzen oder Hakenkreuze. Die ganzen modernen Rassisten sitzen heute seriös in Behörden und Politik und leiten uns. Und die deutsche Leitkultur ist für mich auch wieder nur saufen, konsumieren, Drogen nehmen, Party machen — warum sollen wir die übernehmen? Warum wurden wir vor 15 Jahren von den Deutschen ausgegrenzt und heute wird uns vorgeworfen, dass wir uns nicht integrieren, uns selber ausgrenzen? Nach 28 Jahren Leben in Deutschland, soll ich mich integrieren? Wohin?

ZAG:
Warum kamst Du mit 14 und 18 in Haft?

Challa:
Ich hab mit 14 viel auf der Straße mit anderen rumgehangen, die Leute abgezogen haben. Ich wurde dann beschuldigt, an Diebstählen beteiligt gewesen zu sein und mit 14 erstmals verhaftet. Nach drei Monaten wurde ich dann als unschuldig entlassen, aber in den drei Monaten hatte ich im Knast viele neue Erfahrungen, die mein Leben dann prägten. Nach meiner Entlassung wurde ich dann "richtig kriminell", ich habe das im Knast Erlernte einfach draußen weiter angewendet, Drogen und Alkohol genommen. Vier Jahre später kam ich dann erneut in den Knast, dieses Mal wegen versuchten Totschlags. Wir hatten eine Schlägerei gehabt und ich habe ziemlich krass überreagiert, habe einem die Bierflasche ins Auge gedrückt. Ich glaube, auch Alkohol hat da eine Rolle gespielt. Ich wurde dann nach dem Jugendstrafrecht zu 2 1⁄2 Jahren Knast verurteilt. Im Knast machte ich erfolgreich eine weitere Ausbildung zum Maler und Lackierer, aber trotzdem wurde mir nach meiner Entlassung die Abschiebung angedroht.

ZAG:
Warum hast Du die Kurve bekommen?

Challa:
Warum ich die Kurve gekriegt habe? Es waren 30 Monate im Knast, eine lange Zeit; die Zelle ist gerade mal so groß wie hier, wo wir sitzen (wir sitzen in einem bröckelnden Kreuzberger Kellerverschlag, ca. 2 x 3 Meter, umgebaut zum Band-Büro, ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal, voll). Die Zelle ist höchsten 5 1⁄2 Quadratmeter, und man merkt, was einem alles entzogen wird. Die Luft, die man drinnen atmet, ist ganz anders, als die, die man draußen atmet. Es ist ganz was anderes, in der Mauer was zu essen, als draußen. Und man kann schreien, und keiner hört einen draußen...

ZAG:
Weshalb machst Du heute Jugendarbeit?

Challa:
Heute gebe ich verschiedene Workshops zu Rap, wie man Texte schreibt, und zu Breakdance und bin für die Kids da und erkläre ihnen meine Lebenssituation, die auch wirklich krass verheerend war, um die aus dieser Bahn rauszukriegen. Denn ich seh’ schon deformiert aus (Challa hat einige markante Narben, die sich über seinen Kopf mit Kurzhaarschnitt ziehen), geht bitte nicht meinen Weg, sonst werdet ihr genau so aussehen. Ich war echt ein schlechter Mensch, hab' böse Sachen gemacht, viele böse Sachen und bin doch deswegen – wegen meiner Vergangenheit – ein gutes Bespiel heute.

ZAG:
Wie schätzt Du Dein Leben heute ein?

Challa:
Meine Welt ist sehr klein. Ich lebe in einer sehr kleinen Welt von Blicken, Diskriminierung, Vorurteilen – noch heute wie im Knast – was ich nicht verstehen kann, denn du hörst ja, ich rede perfekt Deutsch, wahrscheinlich besser als viele Deutsche, mache Jugend- arbeit, gehe zur Arbeit, esse auch Currywurst und trinke mal ’n Bier – und trotzdem werde ich regelmäßig angemacht und ausgegrenzt, weil ich nicht deutsch aussehe. Du siehst ja, ich habe Narben am Kopf von früher, und das reicht schon. Türkisch aussehen und Narben am Kopf, da kannst du machen was du willst. Du bist immer der "kriminelle Ausländer". Und auch mit meinem türkischen Pass in Verbindung mit meinen Vorstrafen werde ich immer bei allen Behörden und der Polizei der "kriminelle Ausländer" bleiben – oder eher: "Das Opfer meiner eigenen dummen Vergangenheit".

Eine große Schuld gebe ich dabei den Medien. Wenn die Leute ständig Berichte über Ausländerkriminalität sehen, wenn Ausländer ständig so dargestellt werden "wieder zwei Ausländer in der U-Bahn ’nem Rentner den Kopf eingetreten" – dann kann ich den Opa in der U-Bahn sogar verstehen, der mich erst anrempelt und mich dann, statt sich zu entschuldigen, mit "scheiß Ausländer" beschimpft. Aber verabscheuen tue ich wirklich die, die ihr Bild schon fix und fertig im Kopf haben und lospöbeln, wenn ich nur vorbeigehe.

Typisch auch, dass nach einem Autounfall, bei dem ich angefahren wurde und ich die Polizei gerufen habe, ich mir dann von der Polizei anhören musste: "Wir können auch ganz anders, wenn Du hier frech wirst". Und eine Anzeige wegen des Unfalls haben sie auch nicht aufgenommen, auch auf mein Drängen hin nicht. Auch typisch, dass ein Deutscher, der mich angegriffen hat und mit dreizehn Hammerschlägen auf meinen Kopf eingeschlagen hat, nur wegen fahrlässiger Köperverletzung zu 20 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Fahrlässige Körperverletzung!

ZAG:
Kreuzberg wird langsam aber stetig aufgewertet, Bewohner mit Migrationshintergrund, häufig bis heute nicht sehr wohlhabend, werden verdrängt und durch wohlhabende, zumeist deutsche Zuzügler ersetzt. Wie siehst Du die Veränderungen in Deinem Wohnviertel?

Challa:
Meine Gegend hier in 61 war für mich immer eine Sonnenblume: schön, rau und mit 100 Freiräumen. Jetzt wird alles privatisiert, die ganzen Einheimischen werden rausgehauen, mit irgendwelchen Geldern rausgekauft oder weggedrängt und meine Gegend wird immer mehr zu einer Hell’s Kitchen. Der Umgang der Leute miteinander hier im Kiez verändert sich. Letztens habe ich zu einer Frau gesagt, die ihren Hund auf dem Spielplatz laufen ließ, sie solle ihm doch mal 'ne Leine ummachen, und ihre Antwort war "Halt die Schnauze, Türke!" Was mich dann wirklich überrascht hat, war, dass die ganzen Kinder auf dem Spielplatz gleich anfingen zu krakeelen: "Schlampe!", "Hure!", "Nutte!". Ich glaube, die Kinder haben gar nichts anderes mehr mitbekommen und können schon jetzt nichts anderes mehr rauslassen, als Aggressionen.2

Trotz alledem versuche ich in meinem und mit meinem Leben, was anzufangen. Mit unserer Musik bilden wir eine Brücke aus der Vereinzelung und Diskriminierung. Mit K.O.Muzik61 wollen wir auf der Straße Gelerntes zeigen und Widerstand gegen die Ausgrenzung als Türken in Deutschland leisten.

K.O.Muzik61 im Web

ANMERKUNGEN

1 Tupac Amaru Shakur, * 16. Juni 1971 in Brooklyn, New York City; † 13. September 1996 in Las Vegas, Nevada, auch bekannt unter seinem Künstlernamen 2Pac und Makaveli, war einer der erfolgreichsten US-amerikanischen Rap-Musiker. zurück

2 "61" oder "Kreuzberg 61" bezieht sich in sehr freier Form auf den alten Postzustellbezirk. Gemeint ist ein Gebiet zwischen Flughafen Tempelhof im Süden, S-Bahn-Trasse im Westen, dem Kanal im Norden und die Linie Gräfestraße/Körtestraße und Südstern/Friedhöfe im Osten. zurück

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