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Ausgrenzungsstrukturen bekämpfen!?

Der Anti-Bias-Ansatz an Schulen

Bettina Schmidt /Anne Winkelmann

Der Begriff Bias wird aus dem Englischen übersetzt mit Voreingenommenheit oder Schieflage und von Louise Derman-Sparks, der Begründerin des Anti-Bias-Ansatzes, folgendermaßen erklärt: »Any attitude, belief, or feeling that results in, and helps to justify, unfair treatment of an individual because of his or her identity« (Derman-Sparks 1989/1991, 3).

Der Anti-Bias-Ansatz zielt darauf ab, für Diskriminierungen zu sensibilisieren und durch Einseitigkeiten und Voreingenommenheiten entstandene gesellschaftliche Schieflagen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Der Ansatz wendet sich gegen jegliche Formen von Diskriminierung und Unterdrückung. Dabei werden individuelle Voreingenommenheiten, Machtpositionierungen und Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen thematisiert und kontextualisiert.

Initiiert wurde die Anti-Bias-Arbeit – zunächst für den Elementar- und Primarbereich – Anfang der 80er Jahre von Louise Derman-Sparks und Carol Brunson-Philips in den USA. Ausschlaggebend war die Kritik an dominanzkulturellen, multikulturell-touristischen und farbenblinden Ansätzen, die bis dahin zur Bekämpfung von Rassismus entwickelt waren.

Die Weiterentwicklung des Ansatzes für die Erwachsenenbildung fand Anfang der 90er Jahre in Südafrika insbesondere nach der rechtlichen Abschaffung der Apartheid statt (vergleiche ELRU 1997). Seit Anfang der 90er Jahre wird der Anti-Bias-Ansatz auch in Deutschland umgesetzt und weiterentwickelt. Unter dem Titel »Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung« setzt das Projekt Kinderwelten e.V. Anti-Bias ganzheitlich in Kitas um. ErzieherInnen, EinrichtungsleiterInnen, Eltern und die Kinder selbst arbeiten dabei gemeinsam an einem nachhaltigen Veränderungsprozess in der eigene Einrichtung.

Das Projekt »Starke Kinder machen Schule« von Fipp e.V. arbeitet über drei Jahre mit vier Berliner Grundschulen, mit dem Ziel das Demokratiebewusstsein von Kindern durch das Erleben demokratischer Beteiligungsstrukturen an den Schulen zu fördern. Auf der Ebene der LehrerInnen wie SchülerInnen wird ein schulübergreifender Austausch angeregt.

Das Pilotprojekt »Anti-Bias und interkulturelles Lernen« der RAA Brandenburg arbeitet mit einer internationalen Perspektive. Mehrere Weiterbildungen und Fachtagungen von und mit KollegInnen aus Bosnien, Polen, Italien und Deutschland und der Aufbau eines nachhaltigen Netzwerkes bilden die Basis für die Umsetzung von internationalen Jugendbegegnungen mit dem Anti-Bias-Ansatz.

Im Rahmen der Anti-Bias-Werkstatt beschäftigen wir uns auf praktischer und theoretischer Ebene mit dem Anti-Bias-Ansatz. Schwerpunkte sind Seminarangebote für verschiedene Zielgruppen und Bildungsträger sowie die wissenschaftliche Fundierung und Weiterentwicklung des Ansatzes aus einer gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Perspektive der Bildungsarbeit. Darüber hinaus werden Wochen(end)seminare für Erwachsene von freiberuflichen SeminarleiterInnen angeboten, die sich in einem losen Netzwerk regelmäßig austauschen. Unsere Seminare werden jeweils den Bedürfnissen der Zielgruppe und dem Kontext entsprechend konzipiert. Grundsätzlich wird dazu eingeladen, die eigene Perspektive und alltägliche (berufliche) Praxis zu reflektieren. Ausgehend von den eigenen Erfahrungen werden unter Einbeziehung der eigenen Position im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse die Funktionen und Funktionsweisen von Diskriminierungen auf unterschiedlichen Ebenen kognitiv und emotional nachvollziehbar. Auf dieser Grundlage können diskriminierende Kommunikations- und Interaktionsformen sowie unterdrückende Strukturen in den eigenen Lebenszusammenhängen hinterfragt und Ansatzmöglichkeiten zur Veränderung entwickelt werden.

Macht- und Ausgrenzungsstrukturen

Der Anti-Bias-Ansatz verfolgt die Zielsetzung einer diskriminierungsfreien (Welt) Gesellschaft, und richtet sich damit explizit gegen unterdrückende Herrschafts- und Machtverhältnisse, die Benachteiligungen, Ausschließungen und Diskriminierungen produzieren. Vor dem Hintergrund dieser Utopie und Kritik setzt der Anti-Bias-Ansatz bei der Analyse der je eigenen Verstrickung in und Beteiligung an der Aufrechterhaltung vorherrschender Machtverhältnisse an und fokussiert auf dieser Grundlage neben den gesellschaftlich bedingten Begrenzungen individueller Handlungsmöglichkeiten auch die je eigenen Spielräume sowie die Möglichkeiten der Veränderung behindernder Bedingungen. Macht wird in diesem Zusammenhang als Verhältnis verstanden (vergleiche dazu Schmidt 2007, 91ff): Einerseits ist die relationale Machtpositionierung in der Gesellschaft im Verhältnis zu jeweils Anderen gemeint, die sich aus der Verfügung über soziale, politische, ökonomische und rechtliche Macht ergibt (vergleiche Bourdieu 1994/1998, 48; Bourdieu 2005, 49ff). Andererseits wird die situative Handlungsmacht als in einer konkreten Situation gegebenes Verhältnis der Über- und Unterordnung bestimmt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht insbesondere, dass sich das Zusammenwirken von der Handlungsmacht in einer Situation mit der Machtpositionierung in der Gesellschaft befindet (vergleiche Holzkamp 1983, 368ff).

Mit dieser Betonung von Macht im Zusammenhang mit Diskriminierung wirkt der Anti-Bias-Ansatz der weit verbreiteten Reduktion von Ausgrenzung und Diskriminierung auf die Ebene individueller (Fehl) Einstellungen entgegen (vergleiche Cohen 1990, 133; Leiprecht 2003, 30).

Daher wird zwischen drei Ebenen unterschieden, auf denen Diskriminierung – durchaus auch gleichzeitig – stattfindet (vergleiche Schmidt 2007, 59ff): der zwischenmenschlichen, der institutionellen und der ideologisch-diskursiven Ebene. In der Realität sind die Ebenen miteinander eng verknüpft, bedingen und überlappen sich gegenseitig. Der Anti-Bias-Ansatz zielt zudem darauf, verinnerlichte Formen von Dominanz und Unterdrückung aufzudecken und kritisch zu hinterfragen, da es für nachhaltige Veränderungen verfestigter Macht- und Beziehungsstrukturen »zunächst des Bewusstseins über die eigene Beteiligung an der Aufrechterhaltung und deren subjektiver Funktionalität bedarf« (Schmidt 2007, 66).

Chancen und Grenzen

Anti-Bias-Arbeit an und mit Schulen ist grundsätzlich mit Widersprüchen zwischen dem Anspruch des Ansatzes und den Begrenzungen durch diskriminierende Rahmenbedingungen verbunden.

Sie besteht mehrheitlich in der Durchführung vereinzelter Seminare, durch die in einer Klasse für Vorurteile, Macht und Diskriminierung sensibilisiert werden kann. Das Interesse von LehrerInnen bezieht sich meist darauf, kurze, nachhaltig wirksame Workshops zu Vorurteilen und Ausgrenzung in ihrer Klasse durchzuführen, die ein verbessertes Sozialverhalten der SchülerInnen untereinander zur Folge haben. Diese Seminare sind dann meist ausschließlich für die SchülerInnen – anstatt alle AkteurInnen der Schule miteinzubeziehen, bleiben auf einzelne Klassen beschränkt – anstatt auch die Strukturen der gesamten Organisation Schule kritisch zu reflektieren und finden zudem in den Räumlichkeiten und dem Zeitrahmen der Schule statt – ohne außerschulische Räume zu schaffen, in denen nichtschulisches selbstgesteuertes/expansives Lernen (vergleiche Scheller 1998; Holzkamp 1995) erfahren werden kann.

Grundsätzlich besteht wenig Bereitschaft und Motivation, Macht und Diskriminierung auch auf einer institutionellen Ebene in den Blick zu nehmen. Wir halten gerade dies aber für notwendig.

Wir verstehen die spezifische Bedeutung und Herausforderung für Anti-Bias-Arbeit an Schulen darin, die organisationsspezifischen diskriminierenden Praxen (institutionelle Ebene) und institutionalisierten Wissenshaushalte (ideologischdiskursive Ebene) von Schule in ihrer Bedeutung für, Auswirkung auf und Abhängigkeit von individuellen Haltungen, Interaktions- und Kommunikationsformen aller Mitglieder einer Schule kritisch zu analysieren (vergleiche Gomolla / Radke 2002). Die SchülerInnen werden dann als Gegenüber ernst genommen, wenn die inhaltlich formulierten Werte und politischen Ansprüche ihnen nicht nur als Verhaltensnormen auferlegt werden, sondern sich auch auf den verschiedenen Ebenen ihrer Lebensrealität in der Schule wieder finden (vergleiche Leiprecht 2007; Hormel/ Scherr 2004, 29).

In Anknüpfung an Klaus Holzkamp (vergleiche Holzkamp 1983, 368ff; Holzkamp 1995, 23) lassen sich vereinzelt durchgeführte Seminare mit SchülerInnen sogar als restriktive Handlungen einordnen, welche die schulinstitutionellen Praxen weniger in Frage stellen, als dass sie diese stärken. Denn »auffälliges«, den reglementierten Schulalltag störendes Sozialverhalten von SchülerInnen wird besänftigt und somit vermieden, dass dieses als Widerstand gegen die Missstände im Schulsystem verstanden wird und Wirksamkeit erfährt. Diese theoretische Einsicht stellt uns immer wieder vor die Frage, ob wir die sporadische Anti-Bias-Seminarpraxis mit Schulklassen vertreten können.

Demgegenüber sehen wir allerdings die dringende Notwendigkeit antidiskriminierende Inhalte in Schulen hinein zu tragen und zu diskutieren. Bislang bemühen wir uns um möglichst geöffnete Rahmenbedingungen: Wir fordern in außerschulischen Räumlichkeiten zu arbeiten, um den zeitlichen und strukturellen Reglementierungen der Schule möglichst umfassend zu entkommen. Die LehrerInnen bitten wir nicht am Seminar teilzunehmen, um die schulische Leistungs- und Bewertungslogik so weit wir möglich außen vor zu lassen. Darüber hinaus versuchen wir im Rahmen der schulischen Unfreiwilligkeit, Räume relativer Freiwilligkeit zu schaffen, indem wir den SchülerInnen immer auch die Möglichkeit geben, sich gegen unsere Angebote zu entscheiden. Die selbstreflexiven und affektiven Lernangebote unsererseits, sowie die Möglichkeit der Mitbestimmung über Form und Inhalt des Seminars werden von den SchülerInnen meist als eklatanter Gegensatz zu ihrer schulischen Lebensrealität empfunden und es braucht viel Zeit und gegenseitige Geduld, auf dieser Grundlage einen gemeinsamen Arbeitsstil zu finden.

Neben diesen praktischen Bemühungen Schritt für Schritt neue Räume und Wege zu erarbeiten, um über die restriktiven Handlungen im Rahmen des Schulsystems hinaus zu gelangen, steht in unseren theoretischen Auseinandersetzungen auch immer wieder die Frage im Vordergrund, wie der Anti-Bias-Ansatz an Schulen im Sinne einer Erweiterung der Bedingungsverfügung umgesetzt werden kann.

Internet: kinderwelten.net, fippev.de, antibias.eu/index_deu.html, anti-bias-werkstatt.de

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