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Islam, Marx, Godwins Gesetz und das Mem

Eine Polemik

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“
Marx/Engels-Werke, Bd. 1, 378ff.

Es ist nicht wirklich wichtig, etwas über die Religion des Islam zu wissen. Wer dennoch einen ungestillten Wissensdurst diesbezüglich verspürt, findet leicht auffindbar in unzähligen Veröffentlichungen Weiteres zur Entstehungsgeschichte und zur religiösen Praxis.1 Entscheidend ist dagegen die Frage, warum Religionen global und nach dem Ende des sozialistischen Jahrhunderts immer noch eine zentrale Bedeutung in der Herausbildung politischer Macht zukommen. Hierzu ist es notwendig, die religiös-ideologischen historischen Kontinuitäten zu analysieren. Welche und in welcher Form konnten religiös-gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen ihre Dekonstruktionen überleben? Wie transformierte sich autoritäre religiöse Macht in die kulturelle und politische Moderne, und welche Funktionen haben transnationale ideologisch-religiöse Ordnungsvorstellungen der verschiedenen Religionen (wie z.B. Christentum, Islam) in der Gegenwart. Dazu sollte man wissen, dass erst der reale gesellschaftliche Machtverlust religiöser Institutionen den Weg sowohl in Europa als auch in vom Islam kulturhistorisch geprägten Gesellschaften2 freigemacht hat, sich individuell ohne Gefahr für Leib und Leben der öffentlichen dekonstruktivistischen Reflexion religiös-gesellschaftlicher Referenzsysteme zu widmen. Dies bildet auch und vor allem die wesentliche Grundlage für die westliche Beschäftigung mit dem Islam. Dementsprechend ist auch die Zahl der Publikationen zum Islam3. Und dies, obwohl noch die erste Übersetzung des Koran aus dem Arabischen ins Deutsche 1772 von David Friedrich Megerlein mit dem Titel „Die türkische Bibel, oder der Koran“ versehen mit dem Kupferstich „Mahumed, der falsche Prophed“ Hinweis auf die jahrhundertelange Rezeption des realen politischen und militärischen Orients als Bedrohung ist. Ideologisch ist der Islam erst seit Beginn des 16. Jahrhunderts der unmittelbare Machtkonkurrent des Katholizismus. Erst in dieser Zeit bildet der Katholizismus jenes universelle „konquistadorische Prinzip“ als real praktizierbare globale politische Ordnungsvorstellung heraus. Mit dem ideologischen Leitmotiv „eigentlich seid ihr alle Christen, ihr wisst es nur nicht“ beginnt Christoph Columbus den globalen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug. Dieses „konquistadorische Prinzip“ markiert die ideologische Wende zur Neuzeit. Während das Handelskapital sich anschickt, die Macht im Staate zu übernehmen, flüchtet sich der Katholizismus in die Fantasie eines weltweiten Missionsauftrages, der auch die Muslime einschließt. Galten doch im Mittelalter, insbesondere zu den Zeiten der Kreuzzüge, die euphemistisch als 'bewaffnete Wallfahrten nach Jerusalem' bezeichnet wurden, Muslime als Antichristen.

Dantes Göttliche Komödie

Noch in Dantes Göttlicher Komödie4, jener letzten Gesamtschau mittelalterlicher Welterfahrung, findet sich ihr Prophet Mohammad in der Hölle5 wieder. Seit Christoph Columbus geht es jedoch nicht mehr um Distanz und Gegnerschaft, sondern auch um Bekehrung. Der als der Andere, der Fremde, definierte, muss gezwungen werden, seine wahre Christenmenschnatur zu erkennen, bevor er doch, allerdings mit gereinigter Seele, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Wer sich partout nicht missionieren lässt, verharrt im Mittelalter, bleibt Antichrist, ist anti- und unmodern, in heutigem Sprachgebrauch. Auch er landet, erst recht, auf dem Scheiterhaufen. Die Weigerung kulturell islamisch geprägter Gebiete, sich zu unterwerfen, beschleunigt die Stigmatisierung der Muslime. Dies führt rasch zur Verfestigung eines simplifizierten Bilderkanons, der sich als langlebig herausstellt und aus dem auch heute noch reichlich von Politikern und Kirchenfürsten geschöpft wird.

Die Türken vor Wien beflügeln allerlei Verschwörungstheorien, obwohl ein großer Teil des türkischen Heeres aus Christen besteht. Die Propaganda sieht bis heute in den Türken vor Wien den drohenden Untergang des Abendlandes, und nimmt damit noch einmal historisch Bezug auf die angebliche Rettung des Christentums vor dem Ansturm der Araber im Jahr 732 durch Karl Martell in der Schlacht von Tours und Poitiers. Real migrierten tausende christliche Untertanen nur allzu gerne aus dem feudalen Europa und vor der mit der Inquisition, also dem zigtausendfachen Morden vor allem von Frauen, beschäftigten katholischen Kirche ins Osmanische Reich. Hier war ihre politische, soziale und rechtliche Situation bei weitem besser.

Radikalisiert werden diese Stigmatisierungen in der sich rasant entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftsordnung des 18. Jahrhunderts. Die Bilder, die von Muslimen verbreitet sind, entsprechen nun weitgehend den „Zigeunerbildern“. Neben der Verherrlichung von angeblich freier Sexualität6 und unendlichem Reichtum propagiert man die Bedrohung durch faule, nicht lernfähige Orientalen. Im 19. Jahrhundert, als die militärische Bedrohung schon längst nicht mehr existiert, verfestigt sich dieser Bilderkanon. Man spricht Mitte des Jahrhunderts abwertend von der „orientalischen Wirtschaftsweise“ und hält sich gleichzeitig durch militärische Interventionen lästige Konkurrenten vom Leib, wie das Ägypten des Muhammad Ali. Die industrielle und technische Entwicklung wird europäisch, westlich und weiß definiert. Der „kranke Mann am Bosporus“, gemeint ist das von Europa völlig abhängige Osmanische Reich, wird zum geflügelten Wort. Ende des 19. Jahrhunderts herrscht in westlichen Eliten unisono die Vorstellung, dass es solange keine Entwicklung im Nahen Osten gäbe, solange man den Muslimen nicht ihren Islam ausgetrieben hat.

Es mag Zufall sein oder nicht, aber die Argumente ähneln denen in der Gegenwart beängstigend. Und auch damals waren große Teile des Nahen und Mittleren Ostens in der Einflusssphäre des Westens, nur war damals der Irak nicht durch die USA, sondern durch die Briten 'befreit' worden.

Der exotische Orient

Gleichzeitig sprießen allerlei exotistische Blüten. Als Beispiel sei der romantische Dichter Friedrich Martin Bodenstedt genannt. Seine „Lieder des Mirza Schafii“ erschienen bis Anfang des 20. Jahrhunderts in über 40 Auflagen. Dieser Lyrikband war eines der erfolgreichsten Bücher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als es dem Autor nach einigen Ausgaben zu bunt wurde, und er richtig stellte, dass er der Verfasser und nicht der Übersetzer des Buches sei, ja, es einen Mirza Schafii in Wirklichkeit gar nicht gäbe, glaubte ihm niemand. Die „orientalisierenden“ Stigmatisierungen sind schon tief in der bürgerlichen Gesellschaft verankert, der reale Orient wird vom imaginierten nicht mehr unterschieden. Bis in die Gegenwart erfüllt dieses Prinzip seinen Zweck zur „Volksbildung“ und „Disziplinierung“ (nation building) im Westen. Ein späteres Beispiel ist Ludwig Derleth, 1870-1948, Lyriker im Kreis um Stefan George. Er veröffentlichte einen Weltgesang der Reise der Seele zu Gott. Zitat aus dem Kirchenlexikon: „Sein leidenschaftliches Bemühen zielte auf eine neue hierarchische Ordnung eines gereinigten katholischen Christentums.“ Titel: „Der fränkische Koran“, entstanden zwischen 1919 und 1932. Glücklicherweise ist sowohl der Autor als auch sein „Werk“ so gut wie vergessen.

Dazu im Gegensatz stehen die Orienterfahrungen Karl Mays oder Hugo von Hofmannsthals. Deren Orientbegeisterung schlug in maßlose Enttäuschung um, als sie eines Tages tatsächlich in den Orient reisten. Um dies zu vermeiden, haben sich die meisten deutschen Orientalisten erst gar nicht in die Länder begeben. Die Wissenschaftler folgten der Vorstellung, dass die Blütezeit der Araber im Mittelalter lag und die Gegenwart von Dekadenz geprägt sei. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es nach und nach zu einer Pflichtübung für angehende Orientalisten und Islamwissenschaftler, auch eine gewisse Zeit in den Gesellschaften zu verbringen, mit denen sie sich beschäftigten.

Auch die BRD hat im Laufe ihrer Existenz immer wieder den „Orient“ intellektuell konstruiert und populistisch instrumentalisiert. In den 50er und 60er Jahren propagierte man einen „Orient der Massen“, der sich in der Faszination für die Herrscherhäuser äußerte, insbesondere des persischen Pfauenthrons. Entsprach doch dies genau den Phantasien des Kleinbürgers, unendlichen Reichtum und unumschränkte Macht durch das „Wirtschaftswunder“ zu erlangen. In den 70ern fügten die politisierten Studenten einen „Orient des Widerstands“ hinzu, symbolisiert durch die palästinensische Fatah und die iranische Tudeh Partei. Unter dem lautstark propagierten Banner internationaler Solidarität und internationalem Antiimperialismus übersah man, bewusst oder unbewusst, den kaum verhohlenen Antisemitismus, der sich in der arabischen Welt an den Antizionismus anschloss. Die Shoa und deren Konsequenzen zu leugnen, gehörte zum politischen Kanon sich neu formierender islamistischer Gruppen wie der Hamas. Da man in der politischen Linken den sich entwickelnden militanten Islamismus nicht wahrnahm, der in den 60er Jahren mit islamisch begründeten Widerstandskonzepten auf die autoritären Herrschaftssysteme reagierte, konnte man ihn 30 Jahre später plötzlich als „das Böse“ überhaupt entdecken. Damals jedoch wurde der Orient noch als Teil der Weltrevolution imaginiert.

Dagegen stand, nach den Attentaten während der Olympischen Spiele in München 1972 und der nachfolgenden Ölkrise, das allgemeine Bild von einem „Orient der Terroristen“ fest. Während die offizielle Politik beschwichtigte und begann, den „Dialog der Kulturen“ zu entwickeln, reagierten nicht wenige Deutsche ihren latenten Antisemitismus aus. Sprüche wie „Die Juden sind selbst Schuld“ gehörten zum Alltag. Auch die Ursprünge des Massentourismus in den Orient finden sich in dieser Zeit. Heerscharen von Hippies zogen als kiffende, langhaarige Peace & Loveprediger nach Marokko, Iran und Afghanistan. Noch Ende des Jahrtausends stellten in Afghanistan unter den Taliban die zurückgelassenen VW-Busse mit den Hippieparolen einen nicht unbedeutenden Teil des öffentlichen Überlandfuhrparks. In den 80ern erlebte der Massentourismus dann in Länder wie Ägypten (seit 1973 eine pro-amerikanisch orientierte Präsidialdiktatur), Tunesien (Militärjunta) und die Türkei (trotz Militärputsch) einen Boom. Den dortigen Wirtschaftseliten gelang es, zusammen mit transnationalen Touristikunternehmen, den Massentouristen einen Orient aus orientalisierenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts vorzugaukeln, von der Haremsphantasie bis zum üppigen Gelage, von der orientalischen Weisheit aus 1001 Nacht bis zur Interpretation antiker und mittelalterlicher Geschichte als weiße, bürgerlich-europäische Antike. Das industriell reproduzierte Abziehbild des Orients als Geschäftsgrundlage für billigen Massentourismus wird bis heute weder durch militante Anschläge (Ägypten, Tunesien, Türkei) erschüttert, noch durch tausende von Flüchtlingen, die, wie z.B. in Marokko, bei dem Versuch nach Europa zu gelangen, ums Leben kommen.

Bauchtanz und Döner

Mit dem Paradigma einer „multikulturellen Gesellschaft“ wurde dieses Abziehbild des Orients vertieft. Neben Bauchtanz und Döner schob man dem Muslim noch kurzerhand den Islam als Stigma unter. In unzähligen Kirchenkreisen wird bis in die Gegenwart über das Wesen des Islam diskutiert und als Identitätsdebatte über die „Anderen“ geführt. Die „religiöse Wesenheit“ der Muslime, so die Prämisse, wird vom säkular-aufgeklärten Christen grundsätzlich insofern unterschieden, als dass der „Islam“ quasi naturwissenschaftlich als Ordnungsprinzip aller Muslime konstatiert wird. Während Christen ihren Glauben abhängig von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen praktizieren, der Glaube also in die millionenfachen Facetten des Alltags zersplittert ist, gilt dies für Muslime nicht. Sie sind gefangen in der heillosen Welt zwischen „Tradition und Moderne“. Sicherlich verbirgt sich dahinter auch das Wunschdenken einer religiös dominierten Welt, die Christen im Orient zu erkennen glauben. Das Ergebnis dieser multikulturellen Vorstellungen jedenfalls ist das Stigma von Kultur als Identität. Egal, ob Kommunist, Antifaschist, ob liberal oder Sozialist, ob Suicidbomber, Kind, Frau oder Rentner, ob dies oder das, immer ist gewiss, dass er/sie ein Muslim/ eine Muslima ist. Vor kurzem haben die Behörden in Baden-Württemberg und Hessen aus dieser bedrohlich-verschwörerischen Gemengelage offizielle Fragebögen gebastelt, den so genannten „Muslimtest“. Das christliche Abendland at its best.

Dass zur Einschwörung auf den „vorläufigen Endsieg“ des Kapitalismus nach 1989 alte orientalisierende Stigmatisierungen wieder reaktiviert wurden, ist bei dieser Vorgeschichte wenig verwunderlich. Mit dem Verschwinden des Ostblocks fehlte das nationalstaatlich zwingend erforderliche Feindbild. Viele der rat- und orientierungslosen Autoren des veröffentlichten Antikommunismus fanden jedoch „Gott sei Dank“ schnell im neuen, alten Islam ausreichend Gestaltungsmöglichkeit und Einkommenssicherung. Von soviel Aufmerksamkeit gebauchpinselt, gesellten sich die/der Ein oder Andere Urgläubige (Muslima/Muslim) hinzu. Doch den Ton gaben andere an. Mal war es ein Islamwissenschaftler, dann wieder ein Theologe, nicht zu vergessen die Journalisten, Publizisten, Autoren und Schriftsteller, die etwas zum Thema Islam und wie er wirklich war, ist und zu sein hat, zum Besten gaben. Titel wie „Was will der Islam in Deutschland“ oder „Deutscher Islam – Islam in Deutschland“ oder „Muslime in Deutschland“ oder „Der Islam“ oder „Begegnung mit dem Islam“ oder „Kleines Islam-Lexikon“ oder gar „Allah ist ganz anders“ zeugen vom (auf)(R)echten Aufklärungswillen.

Als wenn mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ plötzlich der Blick in das Obskure frei geworden wäre. Natürlich gab es auch die wahrhaft aufrechten Publizisten. Sie wollten retten, was mit Tod, Verzweiflung und Vernichtung bedroht war: Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Demokratie. Dass diese sich mit, um und zum Islam verhalten muss, war selbstverständlich. Irgendwie war eine Lücke im öffentlich-reproduzierbaren Meinungsbild freigeworden und die Intellektuellen schrieben um der eigenen Ruhmesgelüste oder zur Rentensicherung seitenlang ab oder zitierten sich selbst. Titel wie „Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte.“ und „Die Araber, und ihr Traum vom Großarabischen Reich“ oder „“Islam und Abendland. Geschichte eines Dauerkonflikts“ oder gar „Die Verschwörung“ wurden verfasst.

Die ideologische Situation änderte sich grundlegend mit den Anschlägen vom 11. September, insbesondere für weite Teile der kritischen Linken. Hatte man in den 90er Jahren noch vehement gegen die USA im Irak und gegen die neudeutschen Hegemonialansprüche, die im Jugoslawienkrieg offen zu Tage traten, agitiert, traf nun, wie von einem Lichtblitz getroffen, eine globale Bedrohung in den Mittelpunkt der Wahrnehmung, und sie hieß „Islamisten“, „islamischer Fundamentalismus“, „Gihadisten“ usw. Konnten die Taliban zuvor relativ ungestört im Namen des wahren Islam jede Greueltat begehen, wie übrigens heute noch das Regime in Khartoum, Sudan, sah die Welt nun anders aus, klarer, eindeutiger. Gut und Böse hatten wieder zueinander gefunden. Zwar wurde in manch unverständlichem Radikalverbalismus immerhin erkannt, dass Antisemitismus auch außerhalb der kapitalistischen Zentren politische Ideologie sein kann. Aber die Ausführungen blieben wenig erhellend. Es interessierte kaum jemanden, wie die Entwicklung kapitalistischer gesellschaftlicher Strukturen mit der Herausbildung neuzeitlicher antisemitischer Vernichtungsphantasien zusammenfallen. Vielmehr wurde gezimmert und gebastelt bis auch für den Nahen Osten klar war, dass die Geschichte des islamischen Fundamentalismus sowie die neuzeitliche Geschichte der arabischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt, mit Hitler zu tun hat. Godwins Gesetz7 schlägt in ganzer Härte zu.

Beim Stichwort Islam ist die Gleichung Islamisten vorgegeben und wird sofort zur allfälligen 'Verschwörung der Islamisten gegen den Westen', die per se mit Antisemitismus kombiniert ist und Millisekunden später beim Nazivergleich und dem Faschismus landet. Sich differenziert zu äußern, bedeutet bis in die Gegenwart ein Risiko. Denn eine in Seelenreinigung befindliche deutsche Klientel, die sich schuldig fühlt, diesen Antisemitismus nicht vorher bemerkt zu haben, ist gefährlich. Hat sich die Erkenntnis in diesem Fall doch ihren Träger gesucht und nicht umgekehrt. Was dabei herauskommt, wurde von Umberto Eco im Foucaultschen Pendel idealtypisch beschrieben. Einige der so genannten Linken schafften es mit ihren islamischen Verschwörungsphantasien bis ins bürgerliche Lager. In Zeit und Spiegel hieß man sie willkommen. Es sei ihnen auch die anstehende Audienz beim Papst vergönnt.

Der Nahe Osten

Skizzieren wir die ideologischen Verhältnisse im Nahen Osten: Der arabische Nationalismus als tragende Staatsideologie ist Ende der 60er des vergangenen Jahrhunderts gescheitert. Seither versucht der politische Islam, in das entstandene Machtvakuum vorzustoßen – bislang weitgehend erfolglos, trotz des jahrzehntelangen nie versiegen wollenden Geldflusses aus den Golfstaaten, insbesondere Saudi-Arabiens, welches auch die religiösen Stichworte für die ideologische Front gegen den arabischen Nationalismus, gegen Sozialismus und Kommunismus definiert, trotz der strategischen und finanziellen Unterstützung durch die USA und Großbritannien, trotz der in vielen arabischen Ländern noch existierenden volksreligiösen Verankerung des Islam. Der politische Islam konnte in keinem Staat die Macht tatsächlich übernehmen, weder durch Gewalt, beispielsweise in Algerien, noch durch Wahlen.

Das heißt jedoch nicht, dass in nahöstlichen Gesellschaften Verschwörungstheorien nicht verbreitet sind. Das Gegenteil ist der Fall. Insbesondere gilt dies für Ägypten. Die wichtigste und gleichzeitig populistischste Verschwörungserzählung ist, dass es während des Lebens von Mohammad eine ideale islamische Gesellschaft gegeben hat. Hier fällt moderne politische Ideologiebildung mit populären Islamvorstellungen, wie sie insbesondere die Muslimbrüderschaften pflegen, zusammen. Die wissenschaftliche Analyse der Frühgeschichte des Islam wird vermieden. Eine Vorgeschichte existiert für sie nur aus religiöser Perspektive, z.B. in der Prophetenfolge. In manchen militanten Gruppen wie Al Quaida wird der Westen als Kultur verschwörungstheoretisch beschrieben: Der Westen habe sich zur Vernichtung des Islam und der arabischen Welt verschworen und betreibe dies auf allen Ebenen. Hier werden die alten antiimperialistischen Reflexe auf die westliche ökonomische und politische Dominanz in religiöse Argumentationsketten überführt. Auffällig daran ist, dass diese Rhetorik sich komplementär zur Rhetorik des Kulturkampfes im Westen entwickelt hat: Quasi Huntington auf islamisch.

Dazwischen existieren allerlei Schattierungen vom „Dialog der Kulturen“, für den sich sowohl die autoritären, autokratischen und totalitären arabischen politischen Eliten, wie auch die westlichen Eliten stark machen. Dabei verfolgen beide das Ziel, den politischen Status Quo zu erhalten. So entwickelten sich aus den Unabhängigkeitsbewegungen der 50er und 60er Jahre nach und nach erbliche Privilegiensysteme, wie in Syrien, Algerien, Libyen oder im Libanon. Die Hisbollah bildete sich im Libanon als militante Opposition heraus und während die Muslimbrüder der religiös motivierten These folgen, dass sich die islamische Gesellschaft in der jahilliyya befindet, also in einem „vorislamischen“ Zustand. Aus diesem Grund ist der militante Widerstand gegen die Herrscher Pflicht des Muslim. Sie reagieren auf den zunehmenden Einfluss der von Saudi-Arabien verbreiteten Ideologie des Wahabismus, der Muslimen den Widerstand gegen ungerechte Herrschaft verbietet, solange diese muslimisch ist. Eine Ideologie, die sich die Eliten der arabischen Staaten zu eigen gemacht haben, kommt sie ihnen doch entgegen.

Das faszinierende Resümee der ‚neuen’ Betrachtung ‚des Islam’, ist die frappierende Ähnlichkeit mit der sich die Geschichte der Machtkonsolidierung und –andienung wiederholt. Hatte die sogenannte ‚kritische Linke’ durchaus Etappen in der sie es schaffte, sich vom Herrschaftsdiskurs zumindest teilweise zu emanzipieren, ist seit dem ‚Ende der Geschichte’ 1989 und insbesondere seit dem ‚war against terror’ ein lautstarker Teil, von der Erkenntnis 'Es gibt Mord und Totschlag' überrollt und der Erleuchtung 'Es gibt Antisemitismus' geblendet, vor allem mit der ‚Bewilligung der Kriegskredite’ beschäftigt. Und hierzu ist auch das durchsichtigste Verschwörungskonstrukt nicht zu banal.

Das Mem8 des Orientalismus hat also den Anitsemitismus entdeckt. Kommen solche Töne aus Venezuela oder Brasilien bleiben sie eine Randnotiz. Und andererseits; Mit keinem anderen Thema lässt sich für islamistische Lautsprecher momentan im 'Westen' mehr Beachtung erreichen, egal wie marginal der dazugehörige Verein auch sein mag. Und noch ein Leuchtturm: die hiesige Diskussion, wie antisemitisch der Islam sei. Es fällt schon niemandem mehr auf, dass allein die Fragestellung das Wunschergebnis beinhaltet. Und das Ergebnis? Ja, es ist so! Antisemitismus! Im Islam! Denn auch hier gilt, was für die Bibel der Christen ein Bonmot ist: Jeder sucht sich aus der Bibel, was ihm gerade in den Kram passt. Und wird es auch finden. Dass das Ergebnis nur die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen widerspiegelt, unter denen die Lektüre vorgenommen wird, gerät im Eifer der Erkenntnissuche aus dem Blickfeld.

Tunnelblick

Die Mehrheit der Linken interessiert sich nicht im Entferntesten für die politischen oder gesellschaftlichen Zustände und Bedingungen in den ideologisch bis zum Faschismus phantasierten 'orientalischen' Ländern, die gerade so begeistert mit Krieg befreit werden. Diskutiert wird, was der politische Mainstream vorgibt, wahrgenommen wird, was dem gewünschten Bild entspricht. Dies ist momentan, der von der islamischen Weltverschwörung existentiell bedrohte Westen. Und die kritische Öffentlichkeit – mit Tunnelblick. Die spezifische Gefährlichkeit des Islam: Erwiesen! Eine große infame Verschwörung! Herr Huntington feiert hier seinen größten Erfolg.

Christoph Burgmer / Tobias Faßmeyer

1 In deutschen Buchhandlungen ist Mohammad allgegenwärtig, Karl Marx allabwesend. Wer da nicht eine Verschwörung der Muslime vermutet, oder gar „Al Qaidas“…

2 Es wird immer wieder gesagt, der Islam würde keine religiösen Institutionen kennen. Dies ist in gewisser Weise richtig, zieht man die katholische Kirche als Vergleich heran. Allerdings ist der politische Einfluss einer Art „religiöser Gelehrtenkaste“ unzweifelhaft bis ins frühe Mittelalter nachweisbar. Doch mit der Rezeption der westlichen Moderne verlieren sie an Einfluss. Heute ist diese „Kaste“ direkt abhängig von den politischen und ökonomischen Eliten des jeweiligen Staates (Was nicht heißt, dass es nicht zuweilen zur Deckung religiöser, politischer und ökonomischer Macht kommt, z.B. in der islamischen Republik Iran).

3 ...später auch in den islamischen Gesellschaften selbst. Wer etwas zur Aufklärung im Islam lesen will, sei auf die Arbeiten von Reinhard Schulze verwiesen.

4 La Divina Commedia von Dante Alighieri zwischen 1307 und 1321 verfasst, ist eine Reisebeschreibung durch die drei Reiche des Jenseits, der Hölle (Inferno), des Fegefeuers (Purgatorio) und des Paradieses (Paradiso). Bei der Reise begegnet Dante vielen historischen und mythologischen Personen, Die Hölle bietet einen Überblick der politischen Verbrechen.

5 Im 9. Graben des 8. Höllenkreises, dem der Glaubensspaltern und Zwietrachtstifter, werden Mohammad und seinem Schwiegersohn Ali pausenlos Gliedmaßen abgeschlagen. (Die waren Stifter von Gezänk und Zwietracht / Im Leben, darum sind sie so zerspalten)

6 Noch Karsten Niebuhr, Leiter einer Expedition in den arabischen Orient Mitte des 18. Jahrhunderts im Auftrag des dänischen Königs berichtet über das Harem und die Prachtentfaltung der Herrscherhäuser. Wahrscheinlich ist, dass er niemals ein Harem betreten hat.

7 Godwins Gesetz (englisch Godwin’s Law) ist ein Geflügeltes Wort der Internetkultur, das von Mike Godwin 1990 geprägt wurde. Es besagt, dass im Verlaufe langer Diskussionen, beispielsweise in Usenet-Newsgroups, irgendwann jemand einen Nazivergleich oder einen Vergleich mit Hitler einbringt. (...) Üblicherweise wird die Diskussion nach einem Nazivergleich zwar beendet, jedoch keine Einigkeit erzielt. Derjenige, der die Nazis erwähnte oder seinen Diskussionsgegner als solchen bezeichnete, hat sich damit selbst disqualifiziert, egal worum es ging. (s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Godwins_Gesetz)

8 Ein Mem ist eine Gedankeneinheit, die sich vervielfältigen (reproduzieren) lässt und gleichzeitig als Vervielfältiger (Replikator) wirkt. Das heißt, dass das Mem auch aktuell reproduziert wird, also mindestens einmal zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden ist. Bei der Reproduktion übernimmt ein Anderer einen bestimmten Gedanken, der entsprechend dessen persönlichen Erfahrungs- und Erkenntnisrahmens angepasst wird. Die sprachliche Gestaltung ist dabei nicht wesentlich. Deshalb wäre es besser, von einer Vorstellungseinheit zu sprechen. (...), s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Meme

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