Von Identitätsunsicherheit zu Identitätssicherheit?
Türkische Nachkommen in der Nachwendezeit

Dr. des. Nevim Cil

»1989 markiert ein Jahr des Umbruchs für die deutsche Gesellschaft. Der Mauerfall und die ein Jahr später erfolgte Wiedervereinigung bedeuteten, Veränderungen im sozialen und politi­schen Gefüge Deutschlands neu auszutragen. Die in den achtzi­ger Jahren präsente Hoffnung einiger Teile der Bevölkerung, eine nach Partizipation und Zugehörigkeit definierte Gesellschaft zu konzipieren – unabhängig des Passes–, wurde mit dem aufflammenden Nationalisierungsprozess im neuen Deutschland beendet. Entlang der ethnisierten und nationalisierten ­Zugehörigkeitskriterien war nun Deutsch­land im Begriff, sich selbst neu zu ordnen. Man könnte sogar sagen, dass der Mauerfall und die Wiedervereinigung den unterdrückten Nationalgefühlen zum Ausbruch verhalfen. Die Brandanschläge in Rostock-­Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen hinterließen, zivilgesellschaftlich betrachtet, eine verwüstete Landschaft. Demokratische Errungenschaften wie eine stabile Zivilgesellschaft und Schutz vor Übergriffen waren über Nacht in ihr Gegenteil verkehrt worden. Anfang der 1990er Jahre trat eine Gesellschaft hervor, die nicht davor zurückschreckte, Menschen in Brand zu setzen. Dies beendete den Traum vieler türkischer Nachkommen, an eine Gesellschaft zu glauben, die ihnen eine Aufnahme in diese Gesellschaft versprach.

Kehrtwende in der Debatte
Wurde vor 1989/90 die öffentliche und insbesondere die wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu türkischen Jugendlichen vor allem unter dem Blickwinkel der Identitätsunsicherheit geführt – »zwischen zwei Stühlen«, »Schwierigkeiten in der Akkul­turation« sind nur Stichpunkte dieser Diskussionen – wandelte sich nach 1989/90 diese Perspektive in ihr Gegenteil. In den seit Anfang der 1990er Jahre geführten Debatten steht die Identitäts­sicherheit, die sich in der klaren Zugehörigkeit als MuslimIn, gar als IslamistIn, oder der Überbetonung der nationalen Zugehörigkeit als TürkIn äußert, im Vordergrund. Der Wandel der öffentlichen und wissenschaftlich-federführenden Diskussionen von Identitätsunsicherheit zu Identitätssicherheit der türkischen Jugendlichen brachte mit sich, dass verstärkt über die Entstehung von Parallelgesellschaften und der Integrationsunwilligkeit vor allem von türkischen MigrantInnen gesprochen wird. Welche Auswirkungen jedoch haben die gesellschaftlichen Umbrüche auf die türkischen Nachkommen tatsächlich? Und vor allem welche Tendenzen werden in ihrer Position zu Deutschland seit 1989/90 deutlich?

Tatsache ist, dass die gesellschaftlichen Umbrüche nach 1989/90 das Selbstverständnis und die Selbstverortung der Nachkommen verändert haben. Ihre Fremdheit wurde durch mediale, öffentliche und wissenschaftliche Diskussionen überbetont. Viele Nachkommen fanden sich in einer sozial verengten und für sie vordefinierten Position wieder, nämlich in der Position des/der AußenseitersIn. Gerade Nachkommen, die in den achtziger Jahren sozialisiert wurden, also in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die auch von Diskussionen über das kommunale Wahlrecht, den Partizipationsmöglichkeiten ohne einen Passwechsel geprägt war, zeigen sich besonders enttäuscht von der Wiedervereinigungsphase. Gleichzeitig sind diese Nachkommen diejenigen, die von den Bestrebungen der achtziger Jahre profitiert haben, da sie ihren Fokus auf eine gute Bildung und auf Sprachkenntnisse gelegt hatten. Die Diskussionen der achtziger Jahre haben diese Nachkommen in dem Glauben gelassen, dass ein Gruppenwechsel, nämlich weg von der Außenseitergruppe hin zur Mehrheitsgesellschaft, möglich sei. Die Wendezeit offenbar­te ihnen jedoch, dass sie Außenseiter bleiben werden und zwar ungleich wie gut sie die deutsche Sprache beherrschen und ungleich inwiefern sie sich sogenannte deutsche Lebensgewohnheiten aneignen.

Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft
1989/90 bezeichnet in diesem Sinne auch für die türkischen Nachkommen eine Wende in ihrer Beziehung zur deutschen Gesellschaft. Diese Wende, die sich in der Irritation über das Geschehene und dem Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft zeigte, mündete für viele Nachkommen in einer Infragestellung der einseitigen und unkritischen Übernahme von mehrheitsgesellschaftlichen Integrationsforderungen. Die Skepsis und die Zurückweisung der Integrationsforderungen wird in der öffentlichen und federführenden wissenschaftlichen Diskussion als eine »Re-Ethnisierung« als eine Schaffung von »Parallelgesellschaft« und »ethnischen Enklaven« verstanden. Diese Debatten suggerieren, dass die sogenannte Selbstethnisierung der türkischen Nachkommen ein aktiver und somit gewollter Prozess sei. Deutlich ist aber ihr Gegenteil. Diese Debatten kaschieren zunehmend die ungleichen Machtverhältnisse, sie sind sogar als ein Indiz des einseitigen Diktates zu verstehen.

Enttäuschung, Ohnmachtsgefühle und der Versuch, den nun offensichtlich gewordenen verengten sozialen Status als AußenseiterIn zu verändern, führten dazu, dass die sogenannte eigene Gruppe mit neuen Augen betrachtet wird. Standen vor 1989/90 die Integrationsinhalte der Mehrheitsgesellschaft im Vordergrund, verschiebt sich die Perspektive seit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung auf die Suche nach neuen Beziehungsquellen. Es findet – mit den Worten der Mehrheitsgesellschaft – eine Selbstethnisierung statt, um sich zu schützen und um sich auf sich zu besinnen. Diese Selbstethnisierung verdeutlicht einerseits nur zu genau, wie sehr der gesellschaftliche Handlungsspielraum, das heisst auch der Prozess der Identitätsbildung, von türkischen MigrantInnen eingeengt ist. Andererseits offenbart sie auch, dass die Mehrheitsgesellschaft sie nur dann erduldet, wenn sie als Negativfolie für die eigene Gesellschaft dienen. Sie sind also nur dann von Nutzen, wenn sie sich als »Türke« zu erkennen geben und keine Ressourcen streitig machen. Dass sie dann gerade aus diesem Grund angefeindet werden, ist politisch kalkuliert, es gehört zum Machtspiel dazu.

Mit dem nun offensichtlich verengten Handlungsspielraum der türkischen Nachkommen nach 1989/90 gewinnen Themen wie die eigene Gruppe, der Lebensweg der ersten Arbeitergeneration und die Rückkehr immer mehr an Bedeutung. Interessant ist dabei, dass gerade gut Ausgebildete und somit am meisten an Bildung Orientierte, ihre Unzufriedenheit über ihre soziale Position kundtun und eine Rückwanderung in das Heimatland ihrer Eltern nicht mehr ausschließen.

Das Thema Rückkehr wird ihrer klassischen Bedeutung enthoben und erhält so eine sozialpolitische Dimension. Die soziale Erfahrung der Ablehnung und die vergebliche Mühe, ein Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu werden, verschieben das Thema Rückkehr in ein neues Licht. In diesem Kontext wird Rückkehr als ein durch die gesellschaftliche Veränderung hervorgerufenes Projekt verstanden. Eine Bedeutungsverschiebung erfährt auch die Enklave. Sie dient nunmehr verstärkt als eine Plattform, um sich im neuen Deutschland zu orientieren. Die Kriterien dafür werden jedoch nicht (beziehungsweise nicht mehr entlang) den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft geschaffen. Rückkehr und Enklave erhalten seit 1989/90 also eine gesellschaftspolitische Aussagekraft, die in der Mehrheitsgesellschaft zu Integrationsunwilligkeit umformuliert werden, von den Betroffenen selbst jedoch als ein notwendiges Instrument der Selbstbesinnung und der Neupositionierung zu Deutschland eingesetzt werden.

1989/90 hat die Beziehung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den türkischen Nachkommen neu geordnet. Es beschreibt eine Zäsur in der Zugehörigkeitsfrage zu Deutschland. Was bleibt ist eine offensichtliche und damit unverschleierte Machtasymmetrie. Was auch bleibt sind die Ohnmacht, die Enttäuschung und die Vorsicht gegenüber den Versprechungen dieser Gesellschaft.

Anmerkung: Die Doktorarbeit mit dem Titel Generation, Migration und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess. Positionen türkischer Außenseiter im Kontext der gesellschaftlichen Umbruchsphase erscheint voraussichtlich im September 2006 im Hans Schiler Verlag, Berlin Kontaktadresse nevim.cil@web.de

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