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Antisemitismus ist nicht gleich Rassismus
Interview mit Detlev Claussen

ZAG:
Das antirassistische Spektrum hält sich in der Diskussion über Antisemitismus stark zurück. Der Grund könnte im Verständnis von Antisemitismus als lediglich einem Aspekt des Rassismus liegen. Entspricht das auch ihrem Verständnis?

Detlev Claussen:
Ich denke, das ist ein großes Problem, dass man in der linken Tradition den Antisemitismus als eine Unterabteilung des Rassismus betrachtet hat. Das ist aber nicht nur ein Fehler der linken Diskussion gewesen, sondern der wissenschaftlichen Diskussion nach '45, weil man sich auch dort darauf spezialisiert hat, im Antisemitismus den Rassenantisemitismus als ein Spezifikum hervorzuheben. Das führt in die falsche Richtung. Ich denke schon, dass es Berührungspunkte zwischen Antisemitismus und Rassismus gibt. Das ist unbezweifelbar wahr. Aber trotzdem sind Antisemitismus und Rassismus nicht identisch. Die Geschichte des Antisemitismus ist älter, als die des Rassismus. Es ist deshalb sehr wichtig zwischen der langen Tradition des Antisemitismus und der kurzen Tradition des modernen Antisemitismus zu unterscheiden. Ich ziehe es deshalb vor, von einem traditionellen Antisemitismus zu sprechen, der zu den europäischen Agrargesellschaften gehört und von einem modernen Antisemitismus, der mit der Kapitalisierung der europäischen Gesellschaften und dem aufkommenden Nationalismus in Zusammenhang steht.

ZAG:
Der Rassismus ist, wenn man ihn Ernst nimmt, jüngeren Datums. Von Rassismus lässt sich erst ab dem 19. Jahrhundert vernünftig sprechen, als eine Reaktion auf die französische Revolution. Auch dort ist er zuerst einmal ein europäisches Produkt, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem aufkommenden Nationalismus aufgeladen wird.

Detlev Claussen:
Daher kommt der Schein, dass Antisemitismus, Rassismus und auch die wissenschaftlichen Moden - nämlich die des Biologismus am Ende des 19. Jahrhunderts -, dass dies alles eins sei. Es ist jedoch nur eine zeitliche Koinzidenz.

ZAG:
"Der Begriff des Antisemitismus wird häufig erst ab dem späten 19. Jahrhundert mit der Entwicklung in Frankreich angewandt, wo Sie den Ausdruck des 'modernen' Antisemitismus wählen. Davor wird der Begriff Antijudaismus gewählt. Wieso machen sie die Unterscheidung zwischen modernem und traditionellem Antisemitismus?

Detlev Claussen:
Ich glaube, es ist wichtig, auch bei der Unterscheidung die Einheit nicht aus dem Auge zu verlieren. Es besteht ein Zusammenhang, es sind nicht zwei verschiedenen Welten. Deswegen bezeichne ich den Unterschied durch das unterschiedliche Attribut. Antijudaismus wähle ich nicht, weil der Begriff eine Vorstellung nahelegt, als ob es sich um etwas handelt, das sich direkt gegen das jüdische Volk richtet. Der Sachverhalt ist jedoch komplizierter, weshalb ich auch dort den Ausdruck Antisemitismus anwende. Das heißt nämlich, dass ein gesellschaftlicher Konflikt mit einer feindseligen Praxis gegenüber Juden in Zusammenhang gebracht wird, und darum geht es mir.

ZAG:
Innerhalb der Postkolonialismusdiskussion wurde die These aufgestellt, dass die antisemitische Vernichtungspraxis in Deutschland eine Extrementwicklung des Kolonialrassismus gewesen wäre. Wird hier nicht die Singularität des Holocaust in einem allgemeinen Gewalt- und Ausgrenzungsdiskurs aufgelöst oder sehen Sie Parallelen z.B. zum französischen oder britischen Kolonialrassismus?

Detlev Claussen:
Das verwischt die Unterschiede und deswegen halte ich es nicht für besonders gut, so etwas zu machen. Es ist eines der Probleme, dass Ausdrücke der moralischen Verurteilung genommen werden und diese dann auf alle Phänomene austauschbar angewendet werden. Wenn es analytische Begriffe sein sollen, dann muss der Kolonialrassismus auch etwas mit Kolonien zu tun haben und hat dann darin auch seinen Sinn. Der Antisemitismus hat eine andere Genese und das muss berücksichtigt werden. Es ist nicht sehr viel geholfen, wenn man alle Phänomene mit den Begrifflichkeiten durcheinandermengt. Es ist sehr wichtig, dass nicht völlig aus dem gesellschaftlichen Kontext gerissen wird, was in der Nazizeit geschehen ist und was die Vernichtung der europäischen Juden betrifft. Es ist auch wichtig, dies in Zusammenhang mit der Gewaltpraxis des Nationalsozialismus zu sehen. Die Massenvernichtung ist nicht einfach eine Folge antisemitischer Ideologiebildung. Die Sache ist sehr komplex und man muss sich darüber im Klaren sein, worüber man reden will.

ZAG:
Als Grundlage dieser These werden dem Kolonialrassismus und der Vernichtung der europäischen Juden die Gemeinsamkeit einer rassenbiologischen Legitimationstheorie attestiert.

Detlev Claussen:
Hier sehe ich die größte Fragwürdigkeit. Nämlich dass hier das gleiche Konzept zugrunde gelegt wird, das man 'vom Gedanken zur Tat' umschreiben könnte. Es ist eine völlige Verkennung des Sachverhaltes, dass zunächst einmal der falsche oder schlechte Gedanke einer rassenbiologischen Begründung da ist und dann die Ausführung kommt. Es ist eher umgekehrt, dass zuerst eine Gewaltpraxis vorhanden ist, für die dann Legitimationen gesucht werden.

ZAG:
Sehen Sie den Unterschied von Kolonialrassismus und der Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus in der ökonomischen Verwertung von Menschen durch den Kolonialismus?

Detlev Claussen:
Man muss auch hier aufpassen, dass man dem Kolonialismus keine ökonomische Rationalität zugrunde legt, die er letztlich nicht gehabt hat. Die Schwächung des Kolonialsystems wurde auch durch seine ökonomische Irrationalität bedingt. Andererseits kann man sicher sagen, dass die Vernichtung der europäischen Juden nicht einer ökonomischen Rationalität folgte. Es gab zwar innerhalb dieser Vernichtungspraxis bizarre ökonomische Vorteilspraktiken, aber daraus lässt sich die Massenvernichtung überhaupt nicht erklären. Das Wesentliche ist, dass man versucht, die Unterschiede festzuhalten. Der Kolonialrassismus folgt der europäischen Expansion, während die Massenvernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus sich aus der nationalsozialistischen Logik und der nationalsozialistischen Gewaltpraxis ergibt.

ZAG:
"Die Diskussion von Antisemitismus und von antisemitischen Tendenzen innerhalb der Linken waren immer heftig. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen stand und steht der Israel/ Palästinakonflikt. Das antiimperialistische Spektrum betrachtet Israel als zu bekämpfenden Statthalter des Imperialismus. Sie sehen sich als Kritiker der israelischen Besatzungspolitik und als antizionistisch, nicht als antisemitisch. Ist dies trennbar?

Detlev Claussen:
Diese Begriffe Antizionismus und Antiimperialismus die Ende der 60er Anfang der 70er Jahre Konjunktur hatten, sind von der westlichen Linken ohne sehr viel nachzudenken übernommen worden und man hat viel zu wenig gesehen, inwiefern diese Begriffe durch die sowjetische Politik kontaminiert worden sind. In diesem Zusammenhang ist es jedoch tatsächlich so, dass die Antizionismuskampagnen im von der Sowjetunion beherrschten Raum immer antisemitische Konnotationen hatten. Das hat die westliche Linke völlig übersehen. Sie hat sehr naiv diesen Sprachgebrauch nachgeahmt, ohne zu sehen, dass diese Begriffe überhaupt nicht unschuldig sind.
Zweifellos sollte man aber festhalten - und das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass es immer sehr interessierte Darstellungen gegeben hat, jegliche Kritik an der israelischen Politik durch ganz schlichte Gleichsetzungen von Antizionismus und Antisemitismus abzuwehren. Das ist in dieser Generalität überhaupt nicht gerechtfertigt. Man muss einfach sehen, dass das zionistische Projekt ein Projekt des politischen Nationalismus gewesen ist. Dieser politische Nationalismus hat sich nur in einem kolonialen Kontext realisieren können. Das ist eine der Wurzeln des Nahostkonfliktes, die man nicht einfach wegerklären kann, sondern die vorhanden ist und in deren Logik es auch liegt, dass Israel zu einer Besatzungsmacht geworden ist. Unter diesen Folgen hat Israel nun schwer zu leiden und seit dem 6-Tage-Krieg ist es unabweisbar, dass Israel diese Realität, eine Besatzungsmacht zu sein, anerkennen muss und dass die Realität und Existenz als Besatzungsmacht auch die eigene Legitimität anfrisst.

ZAG:
Dem steht der Vorwurf entgegen, dass unter dem Deckmantel einer Kritik der israelischen Besatzungspolitik und des Zionismus antisemitische Einstellungen propagiert werden, die durch eine Delegitimierung Israels das Existenzrecht des israelischen Staates in Frage stellen wollen.

Detlev Claussen:
Dazwischen kann man doch ganz klare Trennungslinien ziehen. Meine Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass viele Leute immer mit großen Begriffen herumgefuchtelt haben, ohne sich klarzumachen, dass die Logik der Politik von Zionismus und Antizionismus, wenn man sie als ein Projekt des politischen Nationalismus versteht, ist, dass es hier zu einem Zusammenstoß verschiedener Nationalismen kommt, dem israelischen und dem palästinensischen Nationalismus.
Für einen politisch denkenden Menschen bleibt hier nichts anderes - und das wurde schon lange formuliert - als die Form der gegenseitigen politischen Anerkennung. Zur Zeit sehen wir, dass es auf beiden Seiten ganz erhebliche Kräfte gibt, die versuchen dieser politischen Logik durch eine Fundamentalisierung der Politik zu entkommen.

ZAG:
Ein palästinensischer Staat wird oft als agressive Gegengründung zur Delegitimierung des israelischen Staates mit dem Ziel seiner Beseitigung aufgefasst. In der nationalstaatlichen Logik stellt dies das Existenzrecht der Juden in Frage.

Detlev Claussen:
Die Gründung eines palästinensischen Staates hat den Zweck und den immanenten Sinn, dass es zu einer gegenseitigen Anerkennung kommt. Und gegenseitige Anerkennung heißt, die gegenseitige Existenz anzuerkennen. Dazu sehe ich überhaupt keine Alternative. Alle politischen Kräfte auf beiden Seiten, die in eine andere Richtung arbeiten, halte ich für verhängnisvoll. Sie arbeiten aktiv an der Herbeiführung einer Katastrophe.

ZAG:
Die ökonomische Abhängigkeit eines palästinensischen Staates von anderen Staaten wird als Grund für eine latente Agressivität einer solchen Staatsgründung angesehen.

Detlev Claussen:
Ein palästinensischer Staat, der es schafft, mit Israel zu kooperieren, hätte ausgezeichnete Aussichten, er könnte geradezu ein Ferment im Nahen Osten sein, besonders wenn er es schafft, sich als säkularer Staat zu konstituieren. Das Schreckliche an diesem Konflikt ist, dass diese Rationalität von den Konfliktparteien geradezu ausgetrieben wird und im letzten Jahr Möglichkeiten eventuell für Generationen zerstört worden sind.

ZAG:
Die Filmindustrie hat in den vergangenen Jahren verschiedene Produkte zum Thema Holocaust auf den Markt gebracht. Besonders großen Anklang fanden z.B. 'Schindlers Liste' und 'Das Leben ist schön'. Sie werden auch gerne in Schulen vorgeführt. Ist eine derartige stark emotional verankerte Darstellungsweise eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus und Auschwitz?

Detlev Claussen:
Das Problem steckt schon darin: Auschwitz ist kein Thema. Diese Departementalisierung zu pädagogischen Zwecken hat immer etwas Verzerrendes. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass durch die Ausbreitung und die Kulturindustrialisierung des Holocaust jedes aktuelle Bewusstsein mit diesem kulturindustriellen Phänomen in Berührung kommt. Insofern ist jedes kulturindustrielle Phänomen auch eine Chance, diese verzerrende Perspektive rückgängig zu machen oder in Reflektion zu verwandeln. Das ist eine mühselige Aufgabe, aber diese Möglichkeit besteht immer.

Man sollte sich nur keiner Täuschung hingeben, dass die kulturindustriellen Produkte für sich selbst sprechen und für sich selbst Aufklärung schaffen. Wenn man einen Film wie 'Schindlers Liste' vorführt, muss man eine ganze Menge wissen, um in einer Diskussion darüber diese verzerrenden Perspektiven deutlich machen zu können.

ZAG:
Welche Möglichkeiten einer adäquaten Darstellung sehen Sie innerhalb der Medien?

Detlev Claussen:
Nicht umsonst haben sich an Auschwitz Gedanken der Undarstellbarkeit in Kunst und Kultur, aber auch in Wissenschaft angeschlossen. Das ist etwas, das man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Man sollte nicht glauben, dass diese Hürden, die kluge Leute schon vor 50 Jahren festgestellt haben, geringer geworden wären. Da möchte ich vor jedem Optimismus warnen. Es gibt keinen Königsweg - dass es z.B. mit Bildern leichter ist, oder im Film oder im Fernsehen.
Gegen die Aufgabe reflektorisch damit umzugehen, d.h. sich auch mit abstrakteren Medien auseinanderzusetzen, also: lesen, lesen, lesen, davor ist man keineswegs gefeit, wenn man sich mit anderen Medien vertraut macht.

ZAG:
Zur Zeit jagt auf der Rassismuskonferenz der Vereinten Nationen in Durban ein Eklat den nächsten. Durch das Abschlussdokument der NGOs wird Israel als Apartheidstaat verurteilt und die gerade laufenden Diskussionen um die Abschlussresolution der UN-Konferenz führten zur Abreise der us-amerikanischen und der israelischen Delegation. Festgemacht wird der Apartheidsvorwurf beispielsweise am israelischen Eheschließungsgesetz, das Ehen zwischen den Rassen und verschiedenen Religionen verbietet. Was halten Sie von der Gleichsetzung des israelischen Staates mit Apartheid?

Detlev Claussen:
Ich finde das politisch kurzsichtig und auch dumm. Ich finde es schlecht, dass die Schlachten des Kalten Krieges noch einmal geschlagen werden, anstatt auszuarbeiten, welches die politischen Alternativen im Nahostkonflikt sind. Man arbeitet einer politischen Fundamentalisierung aus legitimatorischen Zwecken in die Hände, wenn man versucht die Auseinandersetzung um die israelische Politik im mittleren Osten, aber auch die Irrwege des arabischen und palästinensischen Nationalismus, auf diese alten Kontroversen 'Zionismus als rassistische Praxis' zurückzuführen. Das ist eine Form der Entpolitisierung und als solches ganz falsch, was da geschieht.

ZAG:
In Deutschland wurde in der Stadt Kempten vor kurzem ein Gerichtsurteil getroffen, das den Ausdruck 'Zigeunerjude' nicht als Beleidigung, sondern als freie Meinungsäußerung wertet. Wie bewerten Sie dieses Urteil?

Detlev Claussen:
Dieses Urteil ist schlicht ein Skandal und genauso tolldreist, wie die Erlaubnis für Hess, auf die Straße zu gehen. Ebenso absolut dummdreist und jenseits aller Realitäten ist die Begründung, dass Zigeuner ein nichtwertender Ausdruck sein soll und dass Jude ebenfalls ein nichtwertender Ausdruck sein soll. Das Gericht erkennt einen gedoppelten Versuch, jemanden zu verletzen, überhauptnicht als Verletzung an. Dieser Skandal zeigt auch, wie wenig begriffen worden ist. Hier handelt es sich bei einer antisemitischen Äußerung nicht um eine durch die Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung, sondern - wie man an diesem artifiziellen Ausdruck, der verletzen soll, sieht - um ein agressives Wort. Diese Verbalpraxis ist Teil einer Gewaltpraxis, und das hätte das Gericht ahnden müssen.

Interview: Tobias Faßmeyer

Prof. Dr. Detlev Claussen arbeitet am Institut für Soziologie der Universität Hannover zu den folgenden Schwerpunkten: Antisemitismus, Xenophobie, Nationalismus, Rassismus, Transformationsgesellschaften, Migrationsbewegungen, Kultur- und Wissenschaftssoziologie, Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse

Wichtigste Publikationen:

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